Martin Rost
Publikationen
Erschienen ist dieser Text in:
- Rost, Martin (Hrsg.), 1996: Die Netzrevolution - Auf dem Weg in die Weltgesellschaft, Frankfurt am Main: Eichborn-Verlag ISBN-3-8218-0978-7 / 39.80 DM / S. 165 - 179
- http://www.maroki.de/pub/sociology/mr_ztah.html
1996.05, Version 1.0

Wissenschaft und Internet: Zunft trifft auf High-Tech

Martin Rost

Das Internet ist ein sehr leistungsfähiges Medium für die wissenschaftliche Arbeit. Zur Abwicklung persönlicher Kommunikation zwischen Wissenschaftlern und zur Koordination kleiner Zirkel seit Jahren durchaus genutzt, bleiben die Möglichkeiten zur (Erst-)Publikation von wissenschaftlichen Arbeiten im Netz weitgehend unberücksichtigt.

Ein Netzzugang ist an den deutschen Hochschulen noch immer keine Selbstverständlichkeit. Die Studenten müssen sich ihre Netzzugänge erstreiten. Viele der Professoren und Dozenten beargwöhnen das Netz oder nehmen es gar nicht erst zur Kenntnis. Mag dies zu einem Teil sicher ein Generationenkonflikt (in Deutschland!) im Umgang mit einem technischen Medium sein, der mit der Zeit an Bedeutung verlieren wird, so handelt es sich hierbei vor allem um einen politischen Konflikt. Nämlich wie der Zugriff auf ein Kommunikationsmedium für den wissenschaftlichen Diskurs geregelt ist, um Reputation auch weiterhin als zentrales symbolisches Kapital (s. Bourdieu 1983; Mörth, I./ Fröhlich, G. 1994) in den Wissenschaften zu erhalten.

Die These: Die Computernetze industrialisieren die gesellschaftlichen Formen der Informationsverarbeitung

Obwohl jede deutsche Hochschule seit Jahren allen Hochschulangehörigen einen in der Regel kostenlosen Internet(bzw. WIN)-Zugang zur Verfügung stellen kann, für den eine Hochschule derzeit pro Jahr, einschließlich einiger
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Mehrwertdienste und ausschließlich sämtlicher Hardwarekosten, knapp 400 000 DM (s. DFN-Broschüre 1995: 72) bezahlen muß, wird die Nutzung der teueren Ressource Internet an den deutschen Hochschulen wenig propagiert. Die Gründe für die fehlende Akzeptanz des Internet lassen sich in den vergleichsweise rückständigen Sozialstrukturen des (deutschen) Wissenschaftssystems und den daraus resultierenden Selbsteinschätzungen von der Rolle des Wissenschaftlers finden. Mit dem deutschen Wissenschaftssystem und dem Internet prallen, soziologisch gesprochen, eine zunftartige, vorindustrielle Organisationsform mit an Kunsthandwerk orientierten Mitgliedern und eine Technik zusammen, die einen im Wissenschaftssystem bislang unbekannten Organisations-, treffender ausgedrückt, Industrialisierungsdruck erzeugt.

Die Nutzung des Internet als Kommunikationsmedium für den wissenschaftlichen Diskurs industrialisiert den akademischen Arbeitsplatz, indem es, ungleich mehr als etwa der zunächst lediglich als komfortable Schreibmaschine eingesetzte PC}, die Produktion, die Rezeption und vor allem die Zirkulation von Publikationen maschinell unterstützt (vgl. auch Steinmüller 1993). Dies führt zu einem höheren Grad an kontrollierbarer Arbeitsteilung sowie zu Standardisierungen beim Austausch von Publikationen und erzeugt dadurch eine wieder stärkere Orientierung am wissenschaftlichen Diskurs. Dies ist die zentral stehende These dieses Beitrags.

Ich möchte an den Beginn der industriellen Revolution Mitte des 18. Jahrhunderts erinnern, um die Dramatik des anstehenden krassen Wandels zu verdeutlichen. Krasser sozialer Wandel läßt sich anhand von drei Dimensionen beschreiben: der Geschwindigkeit, der Magisierungen durch die Menschen und der Gründlichkeit der Veränderungen (s. Clausen 1994). Was damals die Werkzeugmaschine und die Dampfmaschine in den entstehenden Fabriken fulminant in Gang setzten, stößt heute der PC im weltweit operierenden Computernetz an. Jedoch waren es nicht die Werkzeug- oder die Dampfmaschine an-sich, sondern die sich um die Maschine schmiegenden Fabriken als Organisationsformen, die die gesellschaftlichen Bereiche, die primär mit Energieverarbeitung zu tun hatten, industrialisierten und demokratisierten. Aus den bereits arbeitsteilig organisierten Zünften und Manufakturen wurden Industriebetriebe. Und heute sind es nicht die PCs, sondern die Computernetze als Organisationsform, die die Organisationen der nicht-trivialen Informationsverarbeitungen industrialisieren und demokratisieren. Bezogen auf den Wissenschaftsbetrieb kann dies demnach bedeuten, daß aus den derzeitigen akademischen Kunsthandwerkern alsbald akademische Industriearbeiter werden und aus den Hochschulen als Handwerksbetrieben Denkfabriken, besser: Diskursfabriken.

In den folgenden Ausführungen werde ich zuerst an die Bedeutung der Diskurse für die Wissenschaft erinnern (dies nicht moralisierend, sondern
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kalt funktional orientiert), durchaus in dem Sinne, wie sie bereits von Humboldt oder von Popper herausgestellt wurde. Dann werde ich den Zugriff auf die Medien, über die Diskurse real laufen, beschreiben und kritisieren. Anschließend verschärfe ich den Kontrast zwischen Wissenschaft als Kunsthandwerk und Wissenschaft als industrieller Produktion, indem ich die derzeitige Praxis mit den sich abzeichnenden Möglichkeiten der Internet-Nutzung vergleiche. Und zuletzt möchte ich noch kurz an einem konkreten Beispiel zeigen, inwiefern von der Nutzung des Internet ein Industrialisierungsdruck auf die gesellschaftlichen Bereiche ausgeht, die mit nicht-trivialer Informationsverarbeitung befaßt sind.

Keine Wissenschaft ohne Diskurs

Jede noch so sensationelle Entdeckung, jedes noch so raffiniert ausgetüftelte Experiment und jede noch so überzeugende Theorie ist bekanntlich wissenschaftlich irrelevant, solange diese nicht in die wissenschaftliche Kommunikation eingespeist wird. Die Diskussion in der Öffentlichkeit der Scientific Community entscheidet darüber, ob publizierte Beobachtungen den wissenschaftlichen Methodenstandards genügen und inhaltlich allgemein als ein Gewinn betrachtet werden können. Diese Community wurde im Zuge der Aufklärung als Referenz ausgemacht.

In ihren Publikationen für die Scientific Communitiy nehmen Wissenschaftler immer Bezug auf die bereits vorliegenden Publikationen anderer Wissenschaftler. Sie stimmen in Publikationen anderen Publikationen zu oder lehnen sie ab. Und jeder wissenschaftliche Autor ist darauf bedacht, selbst möglichst häufig zitiert zu werden. Durch dieses Ineinanderweben von Texten, das mit der entwickelten Drucktechnik seit Anfang des 16. Jahrhunderts (Giesecke 1990, 1992) verstärkt einsetzte, entsteht das eigentliche wissenschaftliche Kommunikationssystem, so wie wir es heute kennen.

Wirft man einen Blick auf die Erkenntnistheorien der aktuellen Philosophie, dann erfährt man, daß Wahrheit an Diskurs bzw. Kommunikation gekoppelt ist. Die einen weisen den Diskurs als einen Ort der Vernunft (Apel 1976, Habermas 1981) aus, die anderen begreifen Wahrheit als eine funktional-spezifische Konditionierung von Kommunikationen (Luhmann 1990). Wie auch immer, die Referenz auf Kommunikation und Diskurs löst die Referenz auf den sich offenbarenden Gott (so die theologische Lösung), auf die a priori dem Menschen innewohnende Vernunft (so die Kantische Lösung), auf die sich geschichtlich notwendig entfaltende Vernunft (so die Hegelsche
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Lösung) oder auf die an menschliche Praxis gekoppelte Vernunft (wie Marx vermutete) ab.

Wirft man ferner einen Blick auf die Soziologie, dann lernt man den wissenschaftlichen Diskurs als ein eigenständiges soziales Gebilde, als eine "soziale Tatsache" und eine "Realität sui generis" (Durkheim 1895) kennen. Genuin soziologisch betrachtet, reproduziert sich der wissenschaftliche Diskurs autokatalytisch anhand von Publikationen: Neue Publikationen erinnern an alte Publikationen und regen ihrerseits Nachfolgepublikationen an. Publikationen werden als die Elemente des Wissenschaftssystems (vergl. Stichweh 1994) ausgewiesen, weil sie aus Publikationen hervorgehen und neue Publikationen stimulieren.

Erst wenn aus dem Denken ein verinnerlichtes Sprechen geworden ist, kann wahrhaftig argumentiert und bestritten werden und Wissenschaft entstehen. Wer am Primat der Sprache vor dem Denken zweifelt, möge sich am Beispiel der Mathematik oder der Physik fragen, ob er allein aus sich heraus und qua begriffslosem Denken auf die Leistungsfähigkeit der Null oder den Impulserhaltungssatz oder auch nur auf die Kugelgestalt der Erde gekommen wäre.

Mit dieser Orientierung am (auch verinnerlichten Selbst-) Diskurs, der über wahr und falsch richtet, hat im Zuge der Aufklärung die Wissenschaft eine demokratische Wendung genommen. Man begann, das Verhältnis von Beobachtung, Wissenschaft, Wahrheit und Wirklichkeit neu zu arrangieren und als Entscheidungsinstanz den Diskurs zu inthronisieren. Hiernach gelten für die Wissenschaft keine unbezweifelbar letztgültigen Wahrheiten mehr.

Selbstverständlich kann wissenschaftsextern politischer, ökonomischer oder religiöser Einfluß auf die Wissenschaft genommen werden. Diese stören Wissenschaft, historisch war dies der Normalfall. Wissenschaft kann heute aber nicht mehr durch wissenschaftsexterne Kräfte wissenschaftlich(!) entschieden werden. Über Wissenschaft als Wissenschaft entscheidet allein der weltweit operierende wissenschaftliche Diskurs der Scientific Community.

Wissenschaftspolitik und Reputation

Dem wissenschaftlichen Diskurs der Scientific Community fällt, wie eben angedeutet, die Position der Entscheidungsinstanz über wissenschaftliche Wahrheit zu. Praktisch nun operiert der wissenschaftliche Diskurs über Kommunikationsmedien.

Zu den im Wissenschaftssystem etablierten Kommunikationsmedien zählen in der Regel schriftlich ausgearbeitete Referate, Artikel in Fachzeit-
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schriften und natürlich Fachbücher. Was uns hier interessiert ist der Zugriff auf diese Medien. So mag zwar der Diskurs in der Wissenschaft unter Gleichrangigen weitgehend demokratisch sein, der Zugriff auf die ihn erst ermöglichenden Kommunikationsmedien ist eindeutig nicht demokratisch.

In Deutschland filtern die Parlamente der Hochschulen, die Leitungen der Institute, die Kultusministerien, die Gremien in der deutschen Forschungsgemeinschaft, das BMFT, die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der Firmen und insbesondere die wissenschaftlichen Redaktionen und Verlage die Beiträge des wissenschaftlichen Diskurses. Diese Organisationen, die sich um den wissenschaftlichen Diskurs herum gebildet haben und diesen strukturieren, betreiben mit der Steuerung ihrer Filter Wissenschaftspolitik. Man kann sagen, daß diese Organisationen die wissenschaftlichen Diskurse konditionieren, indem sie maßgeblich darüber entscheiden, wer auf die Diskurs-Medien zugreifen und was wie und wann mit Aussicht auf Erfolg thematisiert werden darf. Die Steuerung dieser Filter unterliegt primär politischen-, ökonomischen-, aber auch willkürlich gewählten Überlegungen. Das Maß an unkontrollierbarer, personaler Willkür ist insbesondere dort groß, wo die richtige Pflege von Lektoren und Redakteuren den Ausschlag für eine Publikationschance gibt, die wiederum Reputationsgewinne im Wissenschaftssystem nach sich zieht.

Damit ein Beitrag diese Filter passieren kann, spielt dessen wissenschaftlicher Gehalt durchaus eine wichtige Rolle. Doch wichtiger noch als die Qualität des Beitrags ist die Reputation des Autors. Um es scharf zu formulieren: Reputation ist der Schlüssel für den Zugang zu den derzeit etablierten Diskursmedien, trotz aller Verfahrensregeln bei den am höchsten angesehenen Zeitschriften.

Verfügt ein Forscher, z.B. als frisch ausgebildeter Hochschulabsolvent, über keinerlei Reputation, hat er es schwer, seinen Beitrag gut unterzubekommen. Er muß auf Förderung und Fürsprache durch seinen universitären Ziehvater hoffen und kann anfangs nur in weniger renommierten Zeitschriften und Verlagen veröffentlichen, die ihm allenfalls einen geringen Reputationszuwachs einbringen. Das Angewiesensein auf Fürsprache durch gut positionierte Machthaber offenbart die Sozialverhältnisse an den Hochschulen als persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, wie sie für Zünfte zwischen Meister und Gesellen eben typisch sind. Solche Verhältnisse sind menschlich und moralisch nicht unbedingt problematisch, sie werden in dieser Form nur selten thematisiert und sie lassen sich auf beiden Seiten bewältigen. Die Frage ist aber, ob derart konditionierte Sozialverhältnisse in einer halbwegs industrialisierten Gesellschaft angemessen leistungsfähig sein können. Der Grund für die Krise der Hochschulen liegt genau hier.

Zwar bemühen sich einige Fachzeitschriften durch ein zeitaufwendiges
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Gutachterverfahren um eine Orientierung primär am wissenschaftlichen Gehalt eines Aufsatzes, doch jede Redaktion ist aus ökonomischen Gründen darauf angewiesen, möglichst viele Autoren mit Reputation in ihrer Fachzeitschrift publizieren zu lassen, weil damit auch die Reputation der Zeitschrift erhalten oder gesteigert wird. Eine Zeitschrift mit gutem Ruf steigert wiederum das Interesse unter den wissenschaftlichen Autoren, genau dort zu publizieren. Und die Leserschaft ist gezwungen, die Zeitschrift für ihr Fachgebiet zu kaufen. Das ökonomische Ziel einer Zeitschrift muß darin bestehen, möglichst das Referenz-Diskursmedium, zumindest für eine bestimmte Forschungsrichtung, zu werden.

Und hat ein Wissenschaftler seine Zeitschrift und seinen Verlag gefunden, dann gilt es für ihn, Angehöriger einer Clique zu werden, deren Mitglieder sich gegenseitig zitieren und zu Beiträgen in Publikationen verhelfen.

Es kommt nicht primär darauf an, einen wissenschaftlich besonders gehaltvollen Beitrag zu veröffentlichen, sondern eine Zeitschrift zu finden, die einem Autor maximale Reputation verleiht, indem sie den angebotenen Artikel so gerade eben nicht ablehnt. Dann ist ein Artikel optimal verwertet. Dies gilt für Autoren aller wissenschaftlichen Disziplinen. In allen Fachbereichen existieren fein abgestufte Hierarchieskalen darüber, welche Konferenzen, Aufenthalte in Instituten oder Publikationen ein bestimmtes Maß an Reputationsgewinnen abwerfen und das Ansehen in der Wissenschaftlergemeinde steigern.

Zeitschriften dienen auch kaum mehr der offenen Streitkultur, so wie es die Vorstellung von der Scientific Community eigentlich nahelegte. Im besten Falle dokumentieren sie die Ergebnisse von Diskussionen. Zeitschriften dienen vornehmlich als Reputationsquellen. Und dadurch, daß sich die Redaktionen von Zeitschriften, im Prozeß einer Ausdifferenzierung auch der Wissenschaft, in der Regel einer bestimmten Forschungslogik verschrieben haben, sind Anhänger oppositioneller Paradigmen bemüht, anstatt zu streiten lieber ihre eigene Zeitschrift auf den Weg zu bringen, um sich selbst mit Reputation, zumindest innerhalb bestimmter Zirkel, zu versorgen.

Aus der Sicht eines wissenschaftlichen Autors besteht ein entscheidender Mangel des Internet darin, daß die Nutzung dieses Kommunikationsmediums keine im Wissenschaftssystem verwertbare Reputation abwirft. Dies liegt nicht am Medium selbst und auch nicht daran, daß die Anwendung der Netztechnik über die Maßen kompliziert ist, sondern daran, daß Redaktionen mit hoher Reputation das Netz nicht als Vertriebsweg nutzen. Keine Zeitschrift kann sich dies bislang leisten, will sie ein im Zunftsystem geachtetes Publikationsmedium bleiben. Aber selbst wenn Redaktionen sich dem Netz zuwenden werden, ist noch lange nicht ausgemacht, daß sich die Kultusministerien bei Lehrstuhlberufungen von Publikationen im Netz beeindrucken lassen. Bislang kann das Internet von Wissenschaftlern allenfalls dazu benutzt wer-
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den, ihnen eine Art billige Sekundärverwertung von Publikationen zu ermöglichen, die bereits über die klassischen Medien ausgiebig verwertet wurden.

Nun könnte es so aussehen, als ob hier Reputation als etwas zu Meidendes und Schlechtes ausgewiesen wird. So ist es nicht. Reputation evoziert Vertrauen immer dort, wo für die Qualität der Informationsverarbeitung von Analyse und Problemlösung keine technischen Datenblätter zur Verfügung stehen. Dies trifft nicht nur auf die Experten in den Wissenschaftsorganisationen zu, sondern auf Experten in der Politik, unter den wissenschaftlich arbeitenden Freiberuflern, den Consultings oder Künstlern. Deren Klientel ist durchgängig genötigt, statt einem Verfahren mit austauschbarem Personal, in Personen und deren kognitiven Talent zu vertrauen. Wenn tatsächlich ein allein an der Qualität der Publikationen und nicht an Reputation orientiertes Gutachtersystem existierte, dann wäre die Umschlaggeschwindigkeit von Publikationen und deren Kritik im wissenschaftlichen Diskurs sogar noch sehr viel geringer, als es derzeit ohnehin schon der Fall ist. So gesehen beschleunigen unter den gegebenen technischen und sozialen Umständen Reputation und Indiskretion die Umschlaggeschwindigkeit von Publikationen.

Zum Problem wird Reputation im Wissenschaftssystem dann, wenn Reputation, als Qualität einer Person, den Wissenschaftsorganisationen weitgehend allein als Filterkriterium dient und Publikationen aus politischen und ökonomischen Gründen sowie aus Motiven des Standesdünkels ausgefiltert werden. Ein wirklich weitestgehend an Qualität orientiertes, demokratisch operierendes Gutachtersystem, ist auf eine "konviviale Technik" (Illich 1974), wie es das Internet für alle Formen von Diskursen ist, angewiesen.

Die Zunft, der Kunsthandwerker und sein Werkzeug

Sobald Orientierungen an Ehre, Prestige und an Reputationsgewinn als gesellschaftlich erzeugte Motivatoren für das gesellschaftliche Handeln von Menschen ausgemacht sind, horchen Soziologen in Industriegesellschaften genauer hin. Denn diese Orientierungen sind Indikatoren für gering differenzierte Sozialverhältnisse. Während in den Bereichen der industriellen Produktion aufwendige Organisationskonzepte ausprobiert werden und der Kampf um ökonomische und menschliche Vernunft institutionalisiert ist, herrscht im Bereich der nicht-trivialen Symbolverarbeitungen Handwerk vor.

Der vorindustrielle Zustand des Wissenschaftssystems zeigt sich zum einen in den Zunftstrukturen der Wissenschaftsorganisationen, zum anderen in der dementsprechend einfachen Technik bei der Herstellung, Rezeption und
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Zirkulation von wissenschaftlichen Texten und letztlich auch in einem Selbstbild von der Rolle eines Wissenschaftlers, der sich als ein talentierter Kunsthandwerker begreift und inszeniert (die zur Klärung dieses Zusammenhangs noch immer sehr empfehlenswerte Lektüre: Marx 1867).

In den Organisationen des Wissenschaftsbetriebs, insbesondere den Hochschulen, ist eine geplante, rein funktional orientierte Arbeitsteilung bei der Herstellung und der Rezeption von Texten gering entwickelt. Sie wird gemieden, beargwöhnt und für letztlich nicht durchführbar gehalten - alles Reaktionen, die sich aus der patriarchalen Zunftstruktur erklären lassen.

Zieht man andere gesellschaftliche Funktionsbereiche zum Vergleich heran, erstaunt es, wie selbstverständlich in den Hochschulen ein nicht an Leistung, sondern an Stand orientiertes Ausbeutungsystem hingenommen wird. Lehrlinge in Handwerksbetrieben haben ungleich größere Chancen auf fairen Umgang, als sie Studenten und HiWis an den Hochschulen zugestanden werden. Während sich ein Lehrling gegen Hoffegen und Autowaschen des Meisters wehren kann und zumindest auf eine angemessene Entlohnung drängen darf, müssen sich fortgeschrittene Studenten in den Instituten als Hilfsarbeiter und Kopiersklaven verdingen.

Und in den Betrieben, in denen sie als Diplomanden oder Doktoranden häufig an der Front der Forschung und Entwicklung eingesetzt werden, bekommen Sie am Ende für ihre oftmals innovativen und profitablen Entwicklungen einen Stempel, der bescheinigt, daß sie mit ihrer Arbeit an diesem Projekt ihre Prüfung bestanden haben. Die externe Finanzierung von Diplomarbeiten, vielfach händeringend gewünscht, wird verboten, weil dann den Professoren billige Arbeitskräfte verlorengehen würden. Auch für Professoren entstehen dadurch Zwänge, moralisch an bestimmten Mitarbeitern zu kleben und diese protegieren zu müssen, obwohl sie die Protektion nicht ihrer akademischen Leistungsfähigkeit verdanken.

Psychisch dienen viele Studenten-Jobs, insbesondere diejenigen, bei denen keine intellektuellen Fähigkeiten abgefragt werden, als ein Brechen der Individualität. Individualität und Intelligenz sind solange unerwünscht, bis bestimmte Positionen erklommen worden sind. Dadurch werden zum einen die Zunftformen befestigt, zum anderen liegen in den Wissenschaftsorganisationen strukturell Unmengen an intellektuellen Kapazitäten brach. Von der Unzahl rillianter, aber derzeit verarmter arbeitsloser Akademiker ganz zu schweigen...

Eine funktional gleichberechtigte Zusammenarbeit übt keinen besonderen Reiz auf Wissenschaftler aus. Statt synergetische Effekte durch Zusammenarbeit anzustreben, gilt für sie, sich alleine durchzusetzen, um als Einzelne aufsehenerregende Textbeiträge in den wissenschaftlichen Diskurs einspeisen zu können. Dazu muß ein Wissenschaftler beizeiten lernen, wie man Re-
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daktionen und Lektoren pflegt und wie man hierarchisch tieferstehende Mitarbeiter ausbeutet, mit dem Versprechen, sie vielleicht irgendwann einmal zu protegieren. Das Karrieresystem ist dabei so sehr an persönliche Reputation gekoppelt, daß Kooperationen unter formal gleichgestellten Autoren an der Frage scheitern können, welcher der beteiligten Autoren als erster auf dem Umschlag der gemeinsamen Publikation genannt wird, schließlich wird ein Buch anhand des ersten Autornamens in die Bibliothekskataloge einsortiert und die nachrangige Position des Namens könnte vom Leser als eine eher nachrangige Beteiligung am Buchprojekt interpretiert werden.

Technisch wird, dem kunsthandwerklichen Selbstverständnis und dem gering differenzierten Organisationsniveau entsprechend, auf einem niedrigen Niveau werkzeugtechnischer oder maschineller Unterstützung beim Publizieren gearbeitet.

Viele etablierte Wissenschaftler produzieren ihre Texte immer noch mit Papier und Bleistift. Doch selbst wenn ihnen ein Computer zur Verfügung steht und sie damit umgehen können, wird dieser überwiegend in Form einer komfortablen Schreibmaschine eingesetzt.

Der Text errreicht dann auf Diskette die Redaktion oder den Verlag, wo er auf Papier runtergebrochen wird, um als Aufsatz oder Buch den Konsumenten zu erreichen. Technisch spricht seit Jahren schon nichts mehr dagegen, Disketten, Wechselmedien oder CD-Roms als Transportmedium für Publikationen zu benutzen, sieht man einmal von den miserablen Bildschirmen der Monitore ab. Der Leser könnte eine Publikation sofort und ohne mönchsgleiches Abtippen von Zitierwürdigem weiterverarbeiten. Stattdessen muß der Konsumenten einen großen Aufwand betreiben, um per Scanner und OCR-Software die Texte wieder computer-weiterbearbeitbar zu recyceln.

Publikationen durchlaufen derzeit mehrfach Medienbrüche zwischen papierener und digitaler Form, allein aus standespolitischen Gründen. Diese Brüche erhöhen nicht nur den Preis und sind ökologisch und ökonomisch nicht zu rechtfertigen, sondern sie bremsen vor allem die Zirkulationsgeschwindigkeit von Publikationen ab, wodurch der mögliche Wirkungsgrad der wissenschaftlichen Informationsverarbeitung drastisch verschlechtert wird. Seit Jahren ist zudem abzusehen, daß Publikationen auf Papier von den Bibliotheken nicht mehr archiviert werden können, allein weil ihnen schlicht der Raum zur Aufbewahrung fehlt, selbst wenn ihnen genügend Geld zur Anschaffung von Büchern zur Verfügung stünde.

In einigen Fachbereichen ist das Publikationssystem bereits zusammengebrochen. Sie steigen notgedrungen auf das Internet um. In der Mathematik und in den Naturwissenschaften hatte man sich in den letzten beiden Jahrzehnten an die Preprints gewöhnt, da zwischen der Manuskriptabgabe und der Veröffentlichung Jahre vergingen. Und dann dauerte es mindestens mehrere
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Monate, bis eine Veröffentlichung tatsächlich in den Bibliotheken erhältlich war. Diese Erfahrungen haben dazu geführt, daß die "American Mathematical Society" ihr Referate-Organ, die "Mathematical Reviews", im World Wide Web bzw. im Hyper-G anbietet. In Deutschland ist die Mathematik die erste akademische Zunft, die das Internet als Publikationsmedium nutzt. Beim Umstieg zeigt sich, daß noch viele Probleme zu lösen sind, was das Format der elektronischen Publikationen angeht. Das massenmedial attraktive WWW bietet, im Unterschied zum WWW-Nachfolger Hyper-G, für wissenschaftliche Ansprüche zu wenig Strukturierungsmöglichkeiten (s. Grötschel 1994; Dalitz/ Heyer 1995). Auf das Thema der Strukturierung von Publikationen werde ich zum Ende meiner Ausführungen noch einmal zurückkommen.

Die Mathematiker stellen bereits unter Beweis, wie mit einer Publikation aus dem PC heraus direkt ins Internet der mehrfache Medienbruch entfällt und die Anschlußgeschwindigkeit der Publikationen ungleich höher als in den klassischen Publikationsmedien ist. Auch kann jeder Interessent sofort die Publikation für sich kopieren und muß sich nicht mehr mit den Ärgernissen einer Bibliotheksleihe herumschlagen. Würde das Internet als Standardmedium für den wissenschaftlichen Diskurs eingesetzt, stiege schlagartig die Leistungsfähigkeit des Wissenschaftssystems. Das Wissenschaftssystem erhielte eine feinere Körnung ihres Diskurses, die ihr eine genauere Beobachtung ihrer psychischen, sozialen und objekthaften Umwelt erlaubte.

Weist man wie hier auf die Vorteile und Nützlichkeit des Internet hin, folgt üblicherweise der Einwand, daß durch das Netz eine Informationsflut über das Wissenschaftssystem und die Autoren hereinbräche. Das ist natürlich Unsinn, denn die Informationsflut haben wir längst: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es etwa 100 wissenschaftliche Journale. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählte man 10 Tausend, am Ende des 20. Jahrhunderts schätzt man die Zahl auf etwa 1 Million (s. Wiiers 1994: 1-9). Etwa alle 16 Jahre verdoppelt sich die Anzahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen (s. Cummings 1992). Unter diesen Umständen kommt die Vorstellung von gutem Informiertsein allein dadurch zustande, daß ein Autor nicht einmal auch nur grob abzuschätzen vermag, welche Publikationen er ignoriert hat. Nicht die Informationsflut ist das Problem, denn sie ist da und ein in der gesellschaftlichen Evolution großer Vorteil, sondern die Technik, mit der sie gefiltert wird. Für die Entwicklung einer intelligenten Selektionsmaschinerie ist die durchgängige Digitalisierung des Kommunikationsmediums die entscheidende Voraussetzung.

Die Bedeutung von Redaktionen verringert sich mit der Nutzung der Netze nicht, ganz im Gegenteil. Denn Redaktionen erfüllen die Funktion, Publikationen mit Gütesiegeln auszustatten, wodurch sie höhere Aufmerksamkeit erzielen und womöglich automatisch die Filter der Mail- und Newsreader pas-
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sieren. Redaktionen, die ebenfalls technisch unterstützt arbeiten, müssen in absehbarer Zeit nicht mehr allein aus Menschen bestehen. Liegen digitale Publikationen durchstrukturiert, z.B. mit SGML-Tags (Standard Generalized Markup Language), versehen vor, ist es durchaus denkbar, daß automatisch arbeitende Texteauswerter, als Server im Netz ansprechbar, Publikationen mit sozusagen industriell hergestellten Gütesiegeln ausstatten könnten. Diese Automaten lieferten sicher keine Bewertungsqualität wie menschliche Kopfarbeit ab, aber sie könnten durchschnittlich industrialisierten Ansprüchen von Autoren zur Reduktion der Diskurskomplexität genügen. Für exklusive Kopfarbeit wird man bald ebenso viel bezahlöen müssen wie heute für exklusive Handarbeit.

Und noch ein Vorteil muß erwähnt werden, wenn in einem durchdigitalisierten Medium produziert, verarbeitet und publiziert wird: So ist z.B. die Aufbereitung eines Textes als Hypertext spätestens mit der Nutzung des WWW eine bekannte Strukturierungsform. Hypertext bricht die serielle Anordnung eines Textes auf, indem es die Funktion eines Registers perfektioniert. Durch Hypertext wird die Position des Lesers gegenüber der des Autors gestärkt, weil der Leser eine Publikation nicht mehr in einem Zusammenhang lesen muß, so wie dieser vom Autor festgelegt wurde, sondern so, wie es der Leser seinen Interessen gemäß benötigt. Vermutlich wird es schon bald zu einem Qualitätsmerkmal eines Textes werden, in welchem Maße er leserorientiert strukturiert vorliegt.

Zuletzt sei auch noch kurz das herrschende Selbstbild des Wissenschaftlers angesprochen. Psychisch erzeugen die derzeitigen sozialen und technischen Umstände des Wissenschaftssystems ein Selbstbildnis vom Wissenschaftler als Einzelkämpfer. der weitgehend sanktionslos teamavers sein besonderes Talent als Kunsthandwerker ausleben darf.

Dabei muß er allerdings lavieren, um seine sorgsam wieder aufgebaute und dann wohlgehütete Individualität mit den strengen Erwartungen einer Zunftorganisation abzugleichen. Aus diesem Grunde werden viele Auseinandersetzungen im akademischen Zirkel so unerbittlich und gerade auch persönlich geführt. Statt zu argumentieren, spricht man sich lieber gegenseitig die intellektuelle Kompetenz ab. In einem Wissenschaftssystem, in dem das Kapital aus Reputation, Ehre und Prestige besteht, ist dies eine ebenso archaische wie erfolgreiche Kampfform.

Es fehlt Wissenschaftlern in der Regel eine Vorstellung von ihrer gesellschaftlichen Aufgabe. Sie sehen ihre Wissenschaft zumeist als ihre ganz persönliche Passion an und freuen sich, daß die Gesellschaft ihre Spielchen bezahlt. Dabei sind Wissenschaftler kaum mehr als nützliche Idioten des wissenschaftlichen Diskurses, sie sind lediglich die Anwälte für theoretische Positionen, die sich in ihnen ihre gedankenvollen Wirtstiere ausgesucht haben.
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Abschließend möchte ich noch ein paar Worte darüber verlieren, inwiefern ein Computernetz wie das Internet einen Industrialisisierungsdruck auf das zunftartig organisierte Wissenschaftssystem ausübt. Dieser Druck zur Arbeitsteilung und vor allem zur Standardisierung ist sicher nicht mehr zu vergleichen mit dem zu Anfang der industriellen Revolution. Aber auch im Zeitalter flexibler Produktionen (Postfordismus, Toyotismus) darf nicht vergessen werden, daß gerade diese darauf beruhen, daß es irgendwann im Prozeß der Industrialisierung gelungen war, die Steigung einer Schraube festzulegen.

Arbeitsteilung, Standardisierung und Honorierung

Leser, die bereits Erfahrungen mit Diskussionen in Newsgroups und Mailinglists haben, kennen das, wie dort Thesen, Kommentare und Kommentare der Kommentare ineinander verwoben werden. Zum Schluß einer intensiv und über längere Zeit geführten Diskussion ist es oftmals kaum mehr möglich, die Argumente den einzelnen Teilnehmern korrekt zuzuordnen. Änderungen an Details sind für den Verlauf eines Diskurses unter Umständen genau so bedeutungsvoll wie Großerzählungen initiativ gewordener Autoren. Bei diesen verschriftlichten Diskussionen ist auf einem hohen Niveau der Arbeitsteilung ein gemeinsames Produkt entstanden. Im Netz kann man real beobachten, wie nun auch im Bereich der geistigen Produktion das Subjekt als Letztbegründung für Geschehnisse verschwindet. Auf dieses Phänomen haben nicht erst die Philosophen der Postmoderne hingewiesen, dies alles ist im Bereich der industriellen Produktion längst der Fall. In einer Mailinglist-Diskussion darauf zu bestehen, "das war aber mein Argument" wirkt albern, weil offensichtlich jedes Argument eine Vorgeschichte hat. Originalität kann offensichtlich nur noch in homöopathischen Dosen beansprucht werden. Um so mehr bekommt Originalität eine Chance.

Beim Texteaustausch über das Netz entsteht die Notwendigkeit, auf Standards zurückzugreifen. Diese Standards umfassen anfangs als kleinsten gemeinsamen Nenner zumeist nur die Festlegung des Zeichensatzes, also etwa DOS-ASCII. Arbeiten Autoren gemeinsam an einer Publikation, müssen auch die Kennzeichnungen von Überschriften und Kommentaren zum Text, die im Text selbst nicht erscheinen sollen, und noch einiges andere mehr, festgelegt werden. Bei Recherchen im Netz stößt man ferner auf bereits bestehende Konventionen, Standards und Formate, die zu einem Teil zumindest für solche Ansprüche an effektive Zusammenarbeit über Betriebssystemgrenzen
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hinaus entwickelt wurden. Aus der Not heraus werden in wissenschaftlichen Arbeitsgruppen die Formate von Textverarbeitungen zur Grundlage genommen. Doch diese sind allesamt ungeeignet für eine effektive Zusammenarbeit. Hinzuweisen ist hier stattdessen auf das bereits kurz erwähnte SGML (Szillat 1994). Im naturwissenschaftlichen Bereich hat sich ferner, auch aus dem Wunsch nach Darstellbarkeit von Formeln, LaTeX (Lamport 1985) durchgesetzt. Im kommerziellen- und verwaltungstechnischen Bereich bildet sich derzeit EDI (Electronic Data Interchange) als Standard für den Dokumentenaustausch heraus (Deutsch 1994). Im Internet wird viel HTML ("Hypertext Markup Language", s. Morris 1995) benutzt, eine Untermenge von SGML, die zur Strukturierung des World Wide Web (http://www.ncsa.uiuc.edu/General/Internet/WWW/HTMLPrimer.html) dient. Oder womöglich gelingt es Java (s. Back 1996), zu einem betriebssystemübergreifenden Betriebssystem zu werden. All diese Standards weisen den Weg zur zukünftigen Standardisierung der Zusammenarbeit im wissenschaftlichen Bereich. Der unwiderstehliche Druck zur Standardisierung, unter Bereitstellung der Möglichkeit zur synergetischen Arbeitsteilung, entsteht sofort bei ernsthaftem Umgang mit dem Internet (ich verweise auf meinen zweiten Beitrag in diesem Buch: "Koautoren per E-Mail koordinieren").

In diesem Zusammenhang muß eine Netzsoftware-Gattung erwähnt werden, die seit gut zehn Jahren im Gespräch ist und eine radikal neue Qualität der Organisation darstellt, nämlich Groupware. Während E-Mails an Briefe- und Newsgroup-Diskussionen noch an Leserbriefe in Zeitungen erinnern, wird durch Groupware eine Form der Zusammenarbeit möglich, die es ohne Digitalisierung des Kommunikationsmediums nicht geben kann. Groupware macht es, etwa in Form von Shared-Editing-Systemen, möglich, daß mehrere Autoren von verschiedenen PCs aus über ein Computernetz zugleich an einer Publikation schreiben können (s. Malm 1994). Jeder Autor sieht dabei in seiner Textverarbeitung den Cursor der anderen Autoren durch den Text huschen. Es wird wohl viele Jahre dauern, bis Wissenschaftler psychisch in der Lage sind, in ihren Textverarbeitungen die Cursor von Mitarbeitern zu schätzen anstatt sie zu fürchten. Um sich an der Intelligenz anderer Menschen erfreuen zu können, bedarf es schließlich demokratischer Verhältnisse.

Zum guten Schluß möchte ich kurz auf das Problem der Honorierung von Diskurs-Beiträgern hinweisen, wenn sich Honorierung womöglich nicht mehr an dem herkömmlichen Verständnis von individuellem Urheberschutz, von Werkshoheit oder auch nur an der Auflagenstärken bemessen läßt. (Fußnote: Zur Diskussion dieser Probleme gibt es eine Mailinglist. Wenn Sie sich in die Mailinglist einschreiben möchten, schicken Sie eine E-Mail an "listserv@listserv.gmd.de", im Text der Mail muß stehen: "subscribe ml-urnur Vorname Nachname".) Es
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sind verschiedene Möglichkeiten der zukünftigen Honorierung von Diskursarbeit denkbar. So wird selbstverständlich eine Diskursfabrik die Wissenschaftler bezahlen müssen, die sie auf ein Problem ansetzt. Auf der Hand liegt ferner die Möglichkeit zur Direktvermarktung von Texten nach dem Sharewareprinzip. Eine dem gegenüberstehende kollektivistische Lösung bestünde darin, daß Verwertungsgesellschaften (wie VG Wort, VG Bild, GEMA etc.) ihre Ansprüche auf die neuen Digitalmedien ausweiteten und Abgaben differenziert auf die Archivierungsmedien, die Distributionsmedien und die Anwendungsmedien erhöben. Noch etwas weiter gedacht, wäre es plausibel, wenn erneut eine Diskussion zur allgemeinen Grundversorgung (s. Opielka 1985) und zum Bürgergeld aufflammte.

Literatur

  • Apel, K. O. (Hrsg.), 1976: Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt/ M.
  • Back, S., 1996: Heißer Kaffee - Programmieren mit Java, in: ct 1996/ 02: 138-142 (darin vor allem die Referenzen auf S. 142)
  • Bourdieu, P. 1983: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, R. (Hg.) 1983: Soziale Ungleichheiten, Göttingen: 183-198; in: Soziale Welt, Sonderband 2
  • Clausen, L., 1994: Krasser sozialer Wandel, Opladen: Leske + Budrich
  • Cummings, A. et al. 1992: University Libraries and Scholary Communication: A Study Prepared for the Andrew W. Mellon Foundation, Association of Research Libraries, Washington DC (elektronisch verfügbar via URL: 'gopher://arl.cni.org', dort im Menü: 'Scholary Communication')
  • Dalitz, W. / Heyer, G., 1995: Hyper-G. Das Internet-Informationssystem der 2. Generation, Heidelberg: dpunkt-Verlag (inklusive CD-ROM). (als Postscript-Datei (6.75MB) erhältlich unter: http://elib.zib-berlin.de/pub/books/HG-BUCH.ps http://elib.zib-berlin.de/Cmath.publ.books hyperg://elib.zib-berlin.de/math.publ.books)
  • Deutsch, M., 1994: Unternehmenserfolg mit EDI; Strategie und Einführung des elektronischen Datenaustausches, Wiesbaden: Vieweg
  • DFN-Broschüre, 1995: 'Wir im Deutschen Forschungsnetz', Nr. 17, März 1995
  • Durkheim, E., 1895: Die Regeln der soziologischen Methode, 1. Aufl., 1984, Frankfurt/ M.: Suhrkamp
  • Giesecke, M. 1990: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt/ M.: Suhrkamp
  • Giesecke, M., 1992: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel - Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft, Frankfurt/ M: Suhrkamp
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