Erschienen ist dieser Text in:
- Rost, Martin, 1997: Anmerkungen zu einer Soziologie des
Internet; in: Gräf, Lorenz/ Krajewski, Markus (Hrsg.), 1997:
Soziologie des Internet. Handeln im elektronischen Web-Werk,
Frankfurt am Main: Campus, Seite 14-38
- http://www.maroki.de/pub/sociology/mr_sdi.html
1997.01, Version 1.0
Anmerkungen zu einer Soziologie des Internet
Aus der Sicht der Techniksoziologie gilt es, nicht nur die neuen
Formen der Kommunikation und die Folgen für Menschen,
Organisationen und für die Gesellschaft insgesamt zu erforschen,
sondern Computernetze selbst noch als einen "sozialen Tatbestand"
(Durkheim, 1895) auszuweisen. Erste Überlegungen zu einer
Soziologie des Internet schließen an den Begriffen der
Techniksoziologie sowie an dem Schichtenmodell der Netztechnik an. Im
Zentrum der Ausführungen steht der Begriff
Protokoll. (Fußnote 1: Bedanken möchte ich mich
herzlich zumindest bei denjenigen, die Vorversionen dieses Textes
kommentierten: Torsten Böhm, Dipl. Soz. Gerd Breitkreuz, Prof. Lars
Clausen, Dr. Ursula Pasero und MA Michael Schack.)
Techniksoziologische Grundbegriffe: Arbeit, Algorithmus, System
Techniksoziologisch nimmt Technik den gleichen Status wie
Ökonomie, Politik, Kultur, Religion, Wissenschaft ein (vgl.
Hochgerner, 1986). Dem techniksoziologischen Verständnis nach
sind technische Funktionen eine Form sozialer Funktionen, eine soziale
"Realität sui generis" (Durkheim, 1895) und können somit
nicht mehr zu "bloß technische Funktionen" trivialisiert werden.
Der Techniksoziologe Volker von Borries hat in seinem Buch mit dem
programmatischen Titel "Technik als Sozialbeziehung" (Borries, 1980)
gezeigt, daß ein technischer Gegenstand soziologisch als eine
Figuration im Elias'schen Sinne (Elias, 1970) erklärbar ist.
Borries weist ein Artefakt als eine in Material gegossene Form der
Interaktion, so nennt er es, zwischen dem Kapital-, dem Design-, dem
Arbeitsprinzip und dem Anwender aus. Konkret nimmt er
-- Ende S. 14 --
dabei Werkzeuge
in den Blick. Borries Theorie ist noch klar verankert in der auf
Arbeit gründenden dialektisch orientierten Praxisphilosophie
(vgl. Kossik, 1967). Thematisch aktueller, aber in der gleichen
Theorietradition stehend, weist Bernward Joerges Technik als einen
materialen Typ sozialer Normen aus (vgl. Joerges, 1989).
Den Richtungswechsel, den die allgemeine Soziologie seit etwa Ende
der 70er Jahre von Dialektik auf Systemtheorie teilweise vollzieht,
hat die Techniksoziologie im etwa vergleichbaren Ausmaß mit
vollzogen, allerdings ohne sich dabei das Beharren auf die
gegenständliche Seite von Gesellschaft respektive von Technik
ausreden zu lassen. (Fußnote-2: Die Techniksoziologie kann, um es anders zu
formulieren, weder von Marx noch von Luhmann lassen, was zu ihrer
anhaltenden Unruhe und den offensichtlichen Inkonsistenzen (siehe die
theoretisch stark divergierenden Beiträge in Weingart, 1989)
führt.) Alle Techniksoziologen, von Hans Linde (Linde, 1972)
bis zu Jost Halfmann (Halfmann/Bechmann/Rammert, 1995) sehen sich
genötigt festzustellen: "Das wichtigste (und wohl auch noch nicht
abschließend geklärte) Problem der Techniksoziologie ist
nach wie vor: ob und in welchem Sinne Technik 'Vollzug' von
Gesellschaft ist." (Halfmann, 1995, 10).
Im Zuge dieses Schwenks und als Versuch, der Techniksoziologie zu
neuer Konsistenz zu verhelfen, liegt es nahe, auch Technik nicht mehr
als eine materiale Form der praktischen Vermittlung von Subjekt,
Gesellschaft und Natur, sondern als eine konditioniert-reproduktive
Kette kommunikativer Ereignisse im Sinne eines sozialen Systems zu
rekonstruieren. Während in der dialektischen Tradition das
Bestimmende von der Vermittlung ausgeht (vgl. Israel, 1979), so geht
dieses in der Systemtheorie umgekehrt von den Systemen aus, wobei die
Systeme die zu Umweltstörungen trivialisierten Vermittlungen
gemäß systemeigener Prozesse und Strukturen
anschließen (vgl. Luhmann, 1984).
Das Autorenteam um Bamme (Bamme et al., 1983) bereitete diesen
paradigmatischen Schwenk der Techniksoziologie dadurch vor, indem es
entdeckte, daß das Maschinelle an der Dampfmaschine nicht aus
deren materialen Gestalt bestand, sondern aus dem in Stahl gegossenen
Algorithmus. Hiernach wäre auch ein Werkzeug ein
materialgewordener Algorithmus. Mit Algorithmus stand ein Begriff zur
Verfügung, der in sicherem Fahrwasser der in der Soziologie
gebräuchlichen Begriffe schwamm, weil er sich als weitgehend
deckungsgleich mit Regeln und Normen erwies. Zudem gestattete er
dieser Theorietra-
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dition besonders überzeugend, über das
Sohn-Rethel'sche Universalscharnier der Warentausch-Abstraktion
(Sohn-Rethel, 1937), Logik und gesellschaftliche Praxis miteinander zu
koppeln.
Mit diesem Schwenk wurden die Informations- und
Kommunikationstechniken (Pool, 1977; Giesecke, 1990, 1992; Flichy,
1994) und speziell der Computer (bspw. Geser, 1989; Rammert et al.,
1989; Esposito, 1993; Heintz 1993) thematisiert. Die Prototechnik der
Industriellen Revolution bestand nun nicht mehr nur aus der Dampf-
oder der Werkzeugmaschine (oder etwas abseitig: der Zeitmaschine (vgl.
Mumford, 1964)), sondern ihr Erscheinen wurde auf den Buchdruck mit
beweglichen Lettern vorverlegt (vgl. Eisenstein, 1983) und in eine
Tradition der Verschriftlichung von Kommunikationen eingepaßt
(vgl. Goody, 1986; Ong, 1987; Haarmann, 1990).
Mitte der 80er Jahre setzte in Deutschland die
Technikgeneseforschung (Übersicht: Strangmeier et al., 1992) ein,
die sich nicht mehr mit der bloß reaktiven Analyse von
Technikfolgen bescheiden wollte (vgl. Dierkes, 1990; Rammert, 1990).
In diesen Forschungen wurde die Evolution klar umrissener Artefakte
weitgehend an die Rolle individueller Akteure (Erfinder,
Konstrukteure, Promotoren) gebunden. Diese primär am einzelnen
Akteur ansetzende Argumentationsfigur war nicht länger
durchzuhalten, als dann großtechnische Systeme wie
Elektrizitätsnetze (Hughes, 1983), Ver- und Entsorgungssysteme
(Braun, 1994) sowie Verkehrs- (Salsbury, 1988) und
Kommunikationssysteme (Geistbeck, 1895; Eveland/Bikson, 1987;
Holling/Kempin, 1989; Schneider, 1989; Thomas, 1995) in den
Forschungsblick gerieten. Renate Mayntz (Mayntz, 1993) schlug vor,
großtechnische Systeme in den Rang eines gesellschaftlichen
Teilsystems zu erheben und ihnen eine den politischen und
ökonomischen Teilsystemen analoge Bedeutung zuzugestehen.
(Fußnote-3: Im
Urteil von Bernward Joerges (Joerges, 1994, 28-29) steht die genaue
Bestimmung jedoch aus, ob wirklich den technischen Systemen oder den
sie umschmiegenden Großorganisationen diese
gesellschaftstheoretische Aufwertung zugute kommen müsse.)
Damit wurde erneut ein Leitbegriff der Techniksoziologie
ausgetauscht. Es formierte nicht mehr der Begriff des Algorithmus die
techniksoziologische Theoriebauphantasie, sondern der des
(großtechnischen) Systems. Und genau wie der Algorithmusbegriff
umstandslos an traditionelle soziologische Begriffe ankoppelbar war,
so scheint gleiches mit dem Systembegriff der Fall zu sein. Zumindest
auf der vordergründig syntaktischen Ebene ist es denkbar
geworden, "sowohl den Hardware-Systembegriff der Ingenieure, der
physische
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Artefakte umfaßt, als auch den Sinn-Systembegriff der
Soziologie, der Kommunikationen umfaßt", zusammenzuführen
(vgl. Grundmann, 1994, 502).
So weit in aller Kürze der Stand der Diskussion auf der
techniksoziologischen Seite. Nun gilt es, ein Modell von
Computernetzen soziologisch anschlußfähig aufzurauhen.
Zur Bestimmung von Computernetzen
Der Begriff Computernetz bezeichnet "mehrere miteinander
verbundene, unabhängige Computer" (Tanenbaum, 1990, 2). Die
Funktion von Computernetzen besteht darin, als Medium zum Transport
von Computerdaten beliebigen Inhalts zu operieren.
Computernetze werden traditionell gemäß ihrer
Ausdehnung als LAN (Local-Area-Network), MAN
(Metropolitan Area Network) sowie WAN
(Wide-Area-Network) bezeichnet (vgl.
Tanenbaum, 1990). Etwa Mitte der 90er setzte sich daneben die
Unterscheidung von Internet und Intranet durch. Mit Internet
wird in der Regel ein weltumspannendes, universal nutzbares
Computernetz (daher macht die Datenautobahn-Metapher einen gewissen
Sinn, vgl. Canzler, 1995) bezeichnet, mit Intranet
demgegenüber ein organisationsintern betriebenes
Computernetz. (Fußnote-4: Der Begriff Intranet wurde in diesem Sinne bereits
1980 im RFC753 (Request For Comment)
verwendet. RFCs sind Veröffentlichungen mit praktisch erprobten
Empfehlungen für Netztechnik und -organisation des Internet
(siehe RFC, o.J.).)
Anhand der einfach anmutenden Frage, wer in Deutschland
computervernetzt kommunizieren kann, läßt sich zeigen,
daß die Bestimmung eines Computernetzes allein in technischer
Hinsicht schon ziemlich verwickelt ist (siehe Abbildung 1, rechte
Säule):
Je nachdem, welche der drei Schichten man nun zugrundelegt, sind
unterschiedliche Grade der technischen Vernetzung zu bestimmen.
Betrachtet man die Kabelstrangebene, konkret etwa in Form des
Telefonnetzes, so ist nahezu perfekt jeder deutsche Haushalt (35,7
Millionen Haushalte (1992), 37 Millionen Telefonanschlüsse (1993)
- Statistisches Bundesamt 1994) vernetzt. Betrachtet man die
Protokollebene, so waren in Deutschland 1,3 Millionen Personen per
TCP/IP vernetzt (Stand: Mai 1996, vgl. Borchers, 1996). Und
interessiert man sich für die Vernetzung auf Anwendungsschicht
und beispielsweise für die Frage, wer in Deutschland E-Mail
empfangen und verschicken kann, so kommt man auf etwa 1,7 Millionen
Personen.
Zugeschnitten auf das Internet als Netze vernetzendes
Computernetz, wird die Anzahl der zum Internet zusammengebundenen
Rechner, in einer bedächtigen Untersuchung (vgl. Lottor, 1996),
auf 12,8 Millionen bei etwa jährlicher Verdopplung geschätzt
(Stand: Juli 1996). Und in einer problembewußten Anwender-Studie
(MIDS, 1996) ist von weltweit 26,4 Millionen Anwendern die Rede
(Stand: Februar 1996).
Diese Einteilung in drei Schichten zur Bestimmung eines Netzes
stellt eine vergröberte Variante des
ISO-7-Schicht-OSI-Modells (vgl. Tanenbaum, 1990; siehe
Abbildung 1, linke Säule. Zu den "Prinzipien der
Siebenschichtigkeit": Tanenbaum, 1990, 17) dar, mit dem die
Netzwerktechniker operieren. Das hier vorgestellte
Dreischicht-Computernetz-Modell ist für soziologische Belange
zunächst hinreichend genug differenziert, weil es primär
darum geht, den Begriff Protokoll herauszuarbeiten.
Um Computernetze (wie z.B. das WiN-genannte deutsche
Wissenschaftsnetz, das uucp-Netz, das FidoNet, CompuServe, AOL,
T-Online usw.) voneinander zu unterscheiden, reichen diese drei
technischen Kriterien nicht aus.
-- Ende S. 18 --
Viele Netze basieren auf exakt der
gleichen Technik, sind aber trotzdem unterscheidbar (eben: WiN, AOL,
FidoNet, ..., Internet). Es müssen deshalb zu den drei
technischen noch mindestens drei soziale Kriterien hinzugenommen
werden: nämlich die Programmatik einer Organisation, die einen
Zugang zum Netz unterhält (ökonomische-, wissenschaftliche-
und politische Programmatik), die Verwaltung eines Netzes
(zentralistisch oder dezentral-selbstorganisiert) sowie die
Zugänge zum Netz (öffentlich/nicht-öffentlich) (siehe
Abbildung 2). (Fußnote-5: Wir haben das für verschiedene Netze
durchdekliniert in: Rost/Schack 1995: 45ff.)
Das besondere am Internet als Computernetz besteht darin,
daß es als ein "Netzevernetzungsnetz", wie es der Name bereits
andeutet, fungiert. Das Internet wird auf Basis der gesamten Palette
an Hardware und Programmen, mit allen nur erdenklichen Motiven und von
offen zugänglichen oder geschlossen operierenden Benutzergruppen
genutzt. Charakteristisch für das Internet ist, daß das
Internet-Protocol (IP gemäß RFC791) eingesetzt wird,
die Rechner untereinander jederzeit kontakten können und der
Netzbetrieb über verteilte Network-Informations-Center
(NIC, die Adresse des globalen InterNIC-
-- Ende S. 19 --
Nameservers lautet: ns.internic.net) koordiniert wird (vgl.
Köhntopp, 1996). Da in Computernetzen auch andere Protokolle als
IP benutzt werden und Rechner einander zwar nicht jederzeit kontakten
(weil sie z.B. Daten mit den Protokollen uucp oder zmodem tauschen)
aber trotzdem E-Mails zustellen können, so macht es Sinn, noch
das Internet und die weltweite Gesamtnetzinfrastruktur, die von
Quatermann als Matrix bezeichnet wird (vgl. Quarterman, 1990),
zu unterscheiden, soweit diese einen Zusammenhang bildet (etwa
dadurch, daß E-Mails über Netzgrenzen zugestellt werden
können). Das Internet ist dabei als Referenz für die
Analyse von Computernetzen besonders geeignet, weil es in Kontakt mit
sämtlichen Realisationen von Computernetzen steht und in der
Funktion als Netzevernetzungsnetz bereits eine eigendynamische
Entwicklungstypik ausgebildet hat.
Das Internet setzt auf anderen Netzen auf. Zu diesen anderen
Netzen zählen betriebseigene Computernetze ebenso wie
Kommunikationsnetze (Telefonnetz, ISDN-Netz, Datex-P-Netz,
Funkstrecken usw.) oder Elektrizitätsnetze. Ingo Braun hat
für großtechnische Systeme, die ihrerseits auf
großtechnischen Systemen basieren, den Begriff des
"Großtechnischen Systems 2. Ordnung" (Braun, 1994, 483ff)
vorgeschlagen. Die Richtung dieses Vorschlags, nämlich eine
weitere Dimension für aggregierte Formen von
Repräsentationen großtechnischer Systeme in
großtechnischen Systemen zu öffnen, finde ich angemessen.
Ich möchte Brauns Vorschlag jedoch aus zwei Gründen nicht
übernehmen:
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- Die Abhängigkeit der verschiedenen Formen von Netzen
voneinander ist vergleichbar groß. Auch ein Energienetz wie ein
Stromnetz ist auf ein funktionierendes Informationsnetz, und seien es
zunächst berittene Boten auf Trampelpfaden oder seien es
Morseapparate, angewiesen, um überhaupt erst einmal einen
verläßlichen Zustand herzustellen. Die verschiedenen
großtechnischen Systeme setzen sich für ihr Funktionieren
gegenseitig voraus, weshalb eine hierarchische Anordnung
gemäß 1. und 2. Ordnung eine falsche Vorstellung der
gegenseitigen Abhängigkeit erzeugt. Es gilt vielmehr, sich auf
ein gegenseitiges Steigerungsverhältnis von großtechnischen
Systemen gefaßt zu machen, die sich zu einem
gesamtgesellschaftlichen Technikteilsystem funktional ausdifferenziert
haben. Ich möchte die These wagen: Ohne großtechnische
Kommunikationssysteme entstehen keine großtechnischen
Energiesysteme und umgekehrt.
- Auf Basis des Internet setzen weitere Formen von Vernetzungen
ein. So bildet das WWW über das Vernetzungsprotokoll http
(Hypertext-Transfer-Protocol) ein
solches Netz, das wiederum das Medium für per html
(Hypertext-Markup-Language) vernetzte
Texte bildet. Man spricht in anderen Zusammenhängen von einem
Overlay-Netz (etwa: das Usenet), das auf der technischen
Infrastruktur bestehender Netzwerke aufsetzt. Groupware,
Shared-Editing, Workflow usw., alle Arten von CSCW (Computer
Supported Cooperative Working, vgl. Malm,
1994; Stodolsky, 1994; siehe Abbildung 4) oder EDI (Electronic
Data Interchange, vgl. Deutsch, 1995) basieren auf
solchen Kommunikationsprotokollen. Es lassen sich insofern viele
weitere Ebenen mit Protokollen und Repräsentationsformen
für Mitteilungseinheiten in dem Universal-Kommunikationsmedium
Internet einziehen. Wenn beispielsweise Firmen über das Internet
kommunizieren und diese ihre Daten im SGML-Format (Standard
General Markup Language, vgl. Rieger, 1995)
strukturiert austauschen, so wäre auch dies eine Vernetzung, die
auf dem Kommunikationsnetz aufsetzte und über ein eigenes
Protokoll verfügte. Folgte man dem Braunschen Vorschlag, so
läge es nahe, hier von Systemen 3., 4., 5., ... Ordnung zu
sprechen. Das wäre konzeptionell wenig befriedigend, weil
beliebig. Stattdessen scheint es mir konsistenter, im
großzügigen Anschluß an den Vorschlag von Mayntz, ein
großtechnisches System wie das Internet als einen Teil des
gesellschaftlichen Techniksystems zu begreifen und für jedes
Technikteilsystem verschiedene Protokollschichten zu unterscheiden.
-- Ende S. 21 --
Protokolle
Der Netzwerker Marshall T. Rose definiert ein Protokoll wie folgt:
"Physically connecting computers isn't enough to achieve mobility
of information. The computers must adhere to a common set of rules for
defining their interactions, i.e., how they talk to one another. How
computers talk to one another is termed a protocol. Protocols
defined in terms of a common framework and administrated by a common
body form a protocol suite." (Rose, 1991, 4)
Protokolle in Computernetzen haben sicherzustellen, daß die
Datenpäckchen rechtzeitig eintreffen und wieder in der
Reihenfolge zusammengesetzt werden, in der sie abgeschickt wurden.
Protokolle regeln, wann ein Transport als abgeschlossen zu gelten hat,
wiederholt werden muß oder zu unterbrechen ist (zur
Komplexität moderner Netzprotokolle: Hosenfeld, 1996; Jaeger,
1996). Protokolle spielen in den jeweiligen Formen einer Schicht eine
Rolle: sei dies als RTS/CTS (Ready-To-Send/Clear-To-Send bei einer
Modemverbindung) auf der Datenleitung, als Transport-, Fehler-,
Kooperations- (Groupware) oder Verschlüsselungsprotokoll der
Datenpäckchen oder in der "weichen" Form der
Empfangsbestätigung des Empfängers an den Sender.
Protokolle regeln den Anschluß von Einheiten horizontal
innerhalb einer Schicht sowie die Abbildung der einen Schicht in der
benachbarten: Kabel schließt an Kabel an, Strom an Strom,
Bitstream an Bitstream, Datenpäckchen an Datenpäckchen,
E-Mail an E-Mail, Zeichen an Zeichen, (dann weiter: Argument an
Argument, Zahlung an Zahlung, Bild an Bild, ...), jeweils im Hinblick
auf den Erhalt von Informationen auch in der vertikalen Dimension
(dazu: Winograd/Flores, 1986, 141ff). Solange diese Adäquanz der
Repräsentationen erhalten bleibt, handelt es sich in horizontaler
und vertikaler Dimension um ein geschlossenes technisches System.
Insofern ist der Begriff des Protokolls innerhalb einer Schicht
spezifizierbar analog zu einem Algorithmus ("endlicher
Automat", vgl. Tanenbaum, 1990). Auf die Anwendungsschicht eines
Netzes wirkt sich das Netzprotokoll als Regeln der
Formulierung von Adressen aus (Telefonnummer einer Mailbox,
E-Mail-Adresse des Empfängers, Adresse eines WWW-Servers oder
FTP-Servers, einer per-Telnet-erreichbaren-Datenbank usw.). Diese
Angabe von Adressen veranlaßt Computer zu Interaktionen mit
anderen Computern, weshalb man auch auf dieser Schicht
netzwerktechnisch von einem Protokoll sprechen muß. Die
Anwendungsschicht bildet aber auch die Schnittstelle des technischen
Systems Computernetz als Medium für Sozialsysteme und
Be-
-- Ende S. 22 --
wußtseinssysteme. Auf dieser Schicht wirken sich für
Anwender erkennbar Organisationsregeln oder juristische Bestimmungen
dadurch aus, indem zum Beispiel von betrieblichen Rechenzentren nur
bestimmte Dienste zugelassen sind, der Datentransfer gesondert gegen
Spionage gesichert ist oder eine unkomfortable, weil billige
Netz-Software eingesetzt wird und dergleichen mehr. Realisiert werden
diese Regeln in dieser Schicht aber spezifisch technisch als
Protokoll.
Die Protokollschicht entspricht dem allgemein-abstrakten
Modell eines Computernetzes. Eine techniksoziologische Aufbereitung
von Computernetzen sollte deshalb an der Protokollschicht ansetzen.
Zum einen wird die netzeigene Dynamik und Problemtypik auf der
Protokollebene besonders deutlich. Zum anderen eignet sich der
Protokollbegriff, um die Schnittstelle zwischen Computernetzen,
Sozialsystemen und Bewußtseinssystemen zu spezifizieren.
Ist vom Protokoll ohne eine bestimmte Schicht zu spezifizieren
vertikal über sämtliche Schichten hinweg die Rede, so soll
dies einem systemtheoretischen Begriff von Protokoll
schlechthin entsprechen. In diesem Sinne lassen sich
großtechnische Systeme und sämtliche Klassen an Artefakten
(also auch Werkzeuge und Maschinen) anhand unterschiedlicher
protocol suites unterscheiden. (Fußnote-6: Womöglich ist es
aussichtsreich, den an Computernetzen geschärften Begriff des
Protokolls in die soziologische Systemtheorie zu importieren, ihn zu
verallgemeinern und den an Algorithmus erinnernden Begriff des
Programms dadurch zu ersetzen. Für Protokolle gilt alles,
was auch für Programme gilt (Luhmann, 1986; Luhmann, 1990), nur
ermöglicht der Begriff des Protokolls, die Regeln des
Aufbaus/Abbaus von Kommunikationen anhand von vorausgehenden
Kommunikationen detailierter zu beobachten.)
Technik als Sozialsystem
Ein Computernetz wie das Internet zählt zu den
großtechnischen Systemen. Groß bezieht sich
darauf, daß es seinerseits auf Maschinen, Computern und
Computernetzen basiert und weltweit als Universalmedium für
Kommunikationen dient. Es ist technisch, weil es eine materiale Seite
hat und eine ganze Anzahl an Regeln, Algorithmen und Protokollen
beinhaltet. Und es ist ein System, weil sich die Kommunikationen in
Form von Artefaktanschlüssen von
-- Ende S. 23 --
ihrer Umwelt klar unterscheiden
lassen und diese einer primär technisch orientierten Eigendynamik
der Entwicklung unterliegen.
Das Internet ist damit jedoch noch kein Sozialsystem im
Luhmannschen Sinne autopoietisch operierender Systeme. Ein
Computernetz läßt sich jedoch als ein Teil des
gesellschaftlichen Techniksystems begreifen, welches womöglich
insgesamt als ein autopoietisches Sozialsystem operiert, wenn dem
Grundgedanken zugestimmt werden kann, daß Technik selbst noch
als eine bestimmte Form von Kommunikation operiert, die eigendynamisch
auf eine unwiderstehliche Weise, nämlich kontingent-produktiv,
dynamisch stabil und ihre Umwelt als Störungen selektiv
wahrnehmend, nur an sich selbst bestimmt sinnhaft anschließt.
Die Anschlüsse von Artefakten an Artefakten oder von
Datenpäckchen an Datenpäckchen durch Protokolle wären
dann technischer "Vollzug von Gesellschaft" (Jost Halfmann). Auch das
einzelne Artefakt als soziales Ereignis wäre bei genügend
feiner Auflösung als Anschluß sozialer Ereignisse zu
verstehen. Eine derart systemtheoretisch orientierte Techniksoziologie
folgte insofern nicht der Perspektive der "Materialität der
Kommunikation" (Gumbrecht/ Pfeiffer, 1988), sondern umgekehrt der der
Kommunikation des Materialen.
Es ist an dieser Stelle nicht möglich, sämtliche
Begriffe einer Soziologie des Internet als Teilsoziologie der
Techniksoziologie zu er- und bearbeiten, um die Frage zu beantworten,
inwieweit das Internet als Teil eines symbolisch generalisierten
Kommunikationsmediums Technik (vgl. Luhmann, 1990) oder (konzeptuell:
nur) als eine massenmediale "Verbreitungstechnologie" (vgl. Luhmann,
1996) aufzufassen wäre. Ich möchte mich deshalb kurz auf die
systemeigenen Anschlüsse der Technik und auf die Perturbationen
seitens der Umwelt konzentrieren, die speziell beim Internet eine
Rolle spielen und in denen den Protokollen eine entscheidende
Bedeutung zukommt.
Geld/Haben, Macht/Entscheiden und Wahrheit/Wissen sind bekanntlich
die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, die über
Preise, Gesetze und Methoden als Programme die Paradoxien
(insbesondere beim Wiedereintritt der Form in die Form) zwar nicht
(auf)lösen, aber den Seitenwechsel praktisch (Fußnote-7:
Dies ist eine
breite Kontaktstelle zwischen Hegel/Marx und Spencer
Brown/Luhmann.) handhabbar konditionieren. Hiernach provoziert die
unhintergehbare Latenz der Paradoxien ihre eigene
Bändigungspraxis. Das gleiche gilt nun für Technik/Probleme,
deren Paradoxien, beim "Worst-Case" des Wiedereintritts der Form in
die Form, spezifisch technisch konditioniert werden. Proble-
-- Ende S. 24 --
me sind das
Programm des Techniksystems. Sie werden spezifiziert als Regeln
(Werkzeuge), Algorithmen (Maschinen) und Protokolle
(großtechnische Systeme). So in Form des Weitermachens oder
Stoppens des Handwerkers beim Herstellen eines Werkzeugs mittels
Werkzeugs, des rechtzeitigen Öffnens oder Schließens von
Reglern bei Maschinen oder des Aufbaus/Abbaus von Verbindungen (etwa
als Straßenbau, Kanalbau, Kabelverlegen oder Protokollkontakt
zwischen Netzservern) in großtechnischen Systemen.
Werkzeug, Maschine und großtechnisches System sind bezogen
auf das Sozialsystem oder das Bewußtseinssystem als solche
bestimmbar. Für ein Bewußtseinssystem sind E-Mail und
Computer Werkzeuge, die regelhaft anzuwenden sind. Beobachtet eine
Organisation E-Mail und Computer, so sind es diese Maschinen, die
funktional ineinander verschränkt eine "Maschinerie" (Marx, 1867)
ausbilden. Bezogen auf Gesellschaft sind E-Mail und Computer
Bestandteile eines großtechnischen Systems. Diese zuletzt
aufgeführte Perspektive versucht dieser Text einzunehmen.
-- Ende S. 25 --
Die Verselbständigung des Technischen zu einem
eigenständigen Sinnsystem zeigt sich bereits bei einem
Universal-Werkzeug wie dem Steinwerkzeug (Pebbletool). Ein Pebbletool
ist Werkzeug und Gegenstand, Form und Medium, das als Werkzeug hart
und als Gegenstand weich, eng und lose gekoppelt zugleich sein
muß. Dadurch daß es hier zur Ausbildung einer Form kommt,
und dabei eine Seite festgehalten und die andere variiert wird,
handelt es sich um eine Form gesellschaftlicher Kommunikation. Beim
Wiedereintritt der Form in die Form wird die Form zum Medium (vgl.
Spencer Brown, 1969). Auch die Ausbildung der Universal-Maschine
Dampfmaschine/Werkzeugmaschine (später dann ist diese
Universalmaschine, auf Basis eines stabilen großtechnischen
Systems, der Stromgenerator vereint mit dem Elektromotor) unterliegt
einer Konditionierung einer Paradoxie. Hier gelingt es, ein
gegenseitiges negentropisches Steigerungsverhältnis herzustellen,
indem zwei Formen im gleichen Medium ausgebildet werden.
(Fußnote-8: Dies
könnte ein Grund sein dafür, daß Marx sich nicht
für eine der beiden Maschinengattungen, Werkzeugmaschine oder
Dampfmaschine, als zentral stehendem Industrialisierungsagenten
entscheiden mochte: Die Werkzeugmaschine paßt zu gut in die
praxisphilosophische Tradition hinein, und die Dampfmaschine
begründet die Verselbständigung der Formbildung der
Maschinerie.) Konkret formuliert: Eine schwächere/gröbere
Maschine gestattet die Herstellung einer
stärkeren/präziseren Maschine, indem eine Dampfmaschine
zunächst für die Herstellung einer besonders präzise
operierenden Werkzeugmaschine verwendet wird, als Voraussetzung
für die Bearbeitbarkeit neuer Materialien, als Voraussetzung
für die Herstellung einer leistungsstärkeren Dampfmaschine
(erkennbar ist dies am Umstieg von Holzkonstruktionen über
Holz-Metall- zu reinen Metallkonstruktionen).
Auch in der Netztechnik zeigt sich, daß das Medium durch die
Form zum Medium der Form wird (vgl. Luhmann, 1990, 181ff). Der
Kabelstrang, selbst schon eine Form im Medium Kupfer, Glasfaser,
Kunststoff ..., dient als Medium für die Form Protokoll, das
wiederum das Medium für die Form E-Mail darstellt, das als Medium
für die Form Briefkommunikation (mit ihrem weichen Protokoll der
Anrede, des Dankes, des Grüßens, ...) genutzt wird. Der
technisch-funktionale Eigensinn eines großtechnischen Systems
wie dem Internet besteht dabei, um es zunächst knapp
auszudrücken, in der Konditionierung der Paradoxie der
gleichzeitig stattfindenden Universalisierung und Spezifikation von
Protokollen: Die Bildung von Schichten (siehe erneut Abbildung 1)
führt einerseits zur fortgesetzten Verbesserung der Ergonomie auf
der Anwenderschicht (mit dem WWW als aktuellem Höhepunkt leichter
Nutzbarkeit
-- Ende S. 26 --
von Computernetzen) und zur Verbesserung der
Leistungsfähigkeit auf der Hardware-Seite.
Durch die Industrialisierung des Transmissionsriemens, die
zunächst in Form von Gestängen, Zahnrädern und
Kupplungen in den Fabriken einsetzte und dann gesellschaftsweit durch
die Strom- und nun durch die Computernetze realisiert wird, wird die
Verbindung von Produktionsmaschine und Konsumtionsmaschine ein
weiteres Mal aufgetrennt und auf industrialisiertem, d.h. technisch
und organisatorisch differenziertem Niveau, neu zusammengesetzt.
Verbesserte Technik (verbessert im Sinne der gesteigerten
Trennschärfe bei der Beobachtung von Wirkung/Nichtwirkung und
Nebenwirkung bzw. der Zuspitzung, welches Problem als gelöst
gelten darf und welches nicht) im Energiebereich schlägt nicht
direkt auf die Technik im Verarbeitungsbereich und umgekehrt durch,
sondern verändert zunächst (auch) die
Kommunikationstechniken in Richtung auf größere Bandbreiten
und leistungsfähigere Selbststeuerung durch Respezifizierung von
Protokollen. Kommunikationstechniken wirken zurück auf die
Entwicklungen der Energietechnik (z.B. im Bereich der Steuerung von
Kraftwerken) und Verarbeitungstechnik (z.B. CAD/CAM-Maschinen), und
"vermitteln" so auch wieder zurück auf sich selbst. Diese ziehen
die Entwicklung größerer Bandbreiten und geringerer
Bauteiltoleranzen nach sich, die wiederum zu leistungsfähigeren
Netztechniken (z.B. FDDI (Fiber Distributed
Data Interface) oder ATM ( Asynchronous
Transfer Modus)) führen. Dadurch verändern
sich auch Maschinen und Werkzeuge.
Das Techniksystem schließt Umweltstörungen,
insbesondere durch andere Sozialsysteme, gemäß der jeweils
systemeigenen Form als Regel, Algorithmus oder Protokoll an. Die
technische Seite von Geld enthält z.B. eine "eingebaute"
Mitteilung, wie es zu handhaben ist. Die Steuerung der Handhabung als
Geld (nicht als Schraubenzieher-Ersatz) obliegt nicht der einzelnen
Person oder der ökonomischen Seite des Geldes, sondern dem
selegierend-disziplinierenden Design. Liegt Geld beispielsweise in
segmentären Gemeinschaften in der Form Muschel oder als
Goldstück vor, ist es auch körperlich zu behandeln. Liegt es
in funktional-differenzierten Gesellschaften dagegen zusätzlich
als E-Cash in einem Chip oder auf einer Festplatte gespeichert vor,
ist es automatisiert verrechenbar. In beiden Fällen funktioniert
der Verwaltungsoverhead des Protokolls, also die Mitteilung über
die Mitteilung als Anweisung, welche Regeln im Umgang mit Geld zu
beachten sind. Technisch beobachtet sind diese Seiten eines
ökonomischen Systems, das selbst für die material-technische
Seite blind ist, nicht vernachlässigbar. Kommunikative Ereignisse
beinhalten in diesem
-- Ende S. 27 --
Sinne vermutlich immer auch einen technisch
bestimmten Verwaltungsoverhead, der die Bandbreite der
Möglichkeiten eines Anschlusses beschränkt. Bezogen auf
Computernetze bedeutet dies, daß Umweltstörungen als
Protokolle beobachtet werden.
Insofern: Über die Protokolle sind
großtechnische Systeme wie das Internet an ihre Umwelten
gekoppelt: sei dies auf der Anwendungsschicht durch Regeln bei der
Adressierung, sei dies als ein Set erwartbarer Funktionen für
Organisationen oder sei dies auf der Kabelschicht als eine technische
Form gesellschaftlicher Kommunikation überhaupt. So werden denn
auch die aktuellen Versuche zur rechtlich angemessenen Einbindung und
Ökonomisierung des Internet technisch allesamt als
Protokollprobleme formuliert, etwa wenn das Problem bewegt wird, auf
welcher Protokollschicht die Authentifizierung des Absenders oder die
Verschlüsselung von finanziellen Transaktionen am besten
realisiert werden solle (vgl. zur Protokollpolitik: Schmidt/Werle,
1994; Hofmann, 1996; Helmers/Hoffmann/Hofmann, 1996). Als weiches
Protokoll ist die Netiquette zu begreifen, ein Text mit
Kommunikationsregeln unter den besonderen Bedingungen der
Netzkommunikation (vgl. Donnerhacke, 1996).
Die Kommunikationen anderer Sozialsysteme mittels Computernetzen
müssen aus technischer Sicht in Protokolleinheiten rekonstruiert
werden. Dies hat zur Folge, daß Texte in einem Digitalmedium auf
eine spezifisch neue Weise organisiert werden. Das Neue besteht
weniger in der Öffnung der Schrift hin zu Multimedia, die durch
die Nutzung von Computernetzen stattfindet und die kulturpessimistisch
als Renaissance des Ikonenhaften beargwöhnt wird. Und es besteht
auch nicht so sehr darin, daß nun jeder Netzteilnehmer als Autor
eine weltweite Öffentlichkeit penetrieren kann. Schon das Buch
erzielte emergente, nicht-intendierte Wirkungen dadurch, daß der
Kontext durch ein anonymes Lesepublikum wechselte. Beim Netz als
Kommunikationsmedium entstehen gegenüber dem Papier
nicht-intendierte emergente Wirkungen dadurch, daß Mitteilungen
selber noch technisch prozessiert werden. Mit Papier als
gesellschaftlich etabliertem, technischem Kommunikationsmedium
funktionieren Computer lediglich als "komfortable Schreibmaschinen"
(Randow, 1996). Werden Computer zu einem großtechnischen System
wie dem Internet zusammengebunden und steht ein digitales
Kommunikationsmedium durchgängig zur Verfügung, öffnet
sich zusätzlich zu den zwei Dimensionen der Materialisierung von
Papiertexten eine dritte Dimension. In der durch die Digitalisierung
des Kommunikationsmediums eröffneten dritten Dimension lassen
sich Texte mit Steueranweisungen zu Texten unterbringen.
-- Ende S. 28 --
Für den Wissenschaftsbereich heißt das konkret,
daß dort die Kommentare der Autoren und deren Kritiker, die
Layoutanweisungen der Textverarbeitungen oder die Steueranweisungen
für Suchmaschinen im Internet lokalisiert sind. Die Vorteile
einer "Diskurs-Markup-Language", die in dieser dritten Dimension die
Arten der Anschlüsse wissenschaftlicher Publikationen an
Publikationen kennzeichnen würde, liegen dann auf der Hand (vgl.
Rost, 1996c). Im WWW werden automatisch Texte einzelner Autoren zu
einem Kollektivtext zusammengebunden. Die in dieser Form von Autoren
nicht mehr konzipierbaren Gesamttexte erzeugen bei Lesern
Assoziationen, die als ganze prinzipiell nicht mehr in Deckung mit
Intentionen einzelner Autoren gebracht werden können (vgl. Groys,
1996; Nickl, 1996). Technisch auf die Spitze getrieben führt die
Nutzung der dritten Dimension zu Personal Agents, (Fußnote-9:
Ein Personal
Agent (auch Roboter, Bot oder Spider genannt) ist ein Programm, das
als Netzrepräsentation eines Netznutzers mit einer gewissen
Autonomie ausgestattet ist, um als Sekretär im Netz
beispielsweise mit einem anderen Personal Agent Termine
abzuklären oder innerhalb eines Budgets weltweit günstigst
einzukaufen, um nur zwei vergleichsweise unspektakuläre Beispiele
zu nennen (vgl. Helmers/Hoffmann 1996; Römer et al., 1996).)
die wiederum als Automaten Steueranweisungen auswerten und selbst
Steueranweisungen erzeugen.
Mit der Herausbildung großtechnischer Systeme setzt sich die
funktionale Differenzierung von Gesellschaft fort. Die Sozialsysteme
greifen auf die vorselegierte Komplexitätsreduktion des
Techniksystems zu, ohne dadurch die spezifischen Anschlüsse von
Technik in ihren Bereich importieren zu müssen. Zahlungen
schließen weiterhin nur an Zahlungen spezifisch an,
Entscheidungen an Entscheidungen, Publikationen an Publikationen, wenn
auch durch den Einsatz moderner Technik in Form von elektronischem
Geld (vgl. zur Internet-Ökonomie: MacKie-Mason/Varian, 1995),
computernetzgestützten Verwaltungs- und Abstimmungsverfahren oder
weltweit operierenden wissenschaftlichen Diskursen in Mailinglists
(vgl. Fröhlich, 1993; Rost, 1996a) allerdings ungleich schneller.
Das in Anspruch genommene Techniksystem verändert nicht den
spezifischen Sinn dieser Anschlüsse, wohl aber die
Organisationen, die sich um bestimmte Sets von Kommunikationen
gebildet haben. Auf diesen Aspekt der gesellschaftlichen Folgen der
Computernetze möchte ich zum Schluß noch kurz eingehen.
-- Ende S. 29 --
Computernetze und ihre gesellschaftlichen Folgen
Computernetze werden mit der Öffnung des WWW 1993 im
aufgeregten Ton thematisiert. Die Autoren sind sich einig, daß
Computernetze enorme soziale Änderungen nach sich ziehen werden.
Einige von ihnen loten die Tragweite der Entwicklungen aus (vgl.
Rheingold, 1994; Bolhuis/Colom, 1995; Heibach/Bollmann, 1996; Rost,
1996), andere bemühen sich frühzeitig um kritische
Einschätzungen (vgl. Goodman, 1995; Stoll, 1995; einige
Beiträge in Kuehnheim/Sommer, 1996; Stegbauer, 1996).
Steinmüller konzentriert seine Beobachtungen des sich
abzeichnenden krassen sozialen Wandels (vgl. Clausen, 1994) in der
These von der Fortsetzung der Industrialisierung (vgl.
Steinmüller, 1993). Lutz spricht frühzeitig von einer
"Hyperindustrialisierung" (Lutz, 1990, 41ff) durch die neuen
Informationstechniken. Mit Blick auf das Wissenschaftssystem, in dem
bislang akademische Meister in Wissenschaftszünften
zusammengeschlossen handwerkern, neige ich dazu, von einer Fortsetzung
und Vollendung des Projekts der Industrialisierung zu sprechen (vgl.
Rost, 1996a). Verallgemeinert ließe sich von einer
Industrialisierung des gesamten Bereichs der anspruchsvollen
Mitteilungsverarbeitung und Mustererkennung (sprich: des
Dienstleistungssektors) sprechen. Diese Technisierung schlägt
dabei ökonomisch und politisch direkt auf das Urheberrecht durch,
weil in einer Informationsgesellschaft zwar jeder
Informationsarbeiter professionell kreativ sein muß,
aber zugleich der Anspruch des Einzelnen auf geistiges Eigentum
obsolet wird (vgl. Barlow, 1995). Die Verwertungsgesellschaften
GEMA und Wort sind erste Versuche, dem technisch
einfachen und billigen Kopieren mit den dadurch entstehenden
katastrophalen Auswirkungen für den einzelnen Produzenten
beizukommen. In einer Informationsgesellschaft müssen Probleme
dieser Art vermutlich überzeugender gelöst werden.
Sozialpolitische Modelle, die die Entkopplung von Arbeit und Einkommen
vorsehen (vgl. Vobruba, 1990) und die unter den Begriffen der
"allgemeinen Grundsicherung" (vgl. Gorz, 1983; 1989) oder des
"Bürgergelds" gefaßt werden, könnten wieder zu ganz
neuer Plausiblität gelangen.
Der aufgeregte Ton rührt daher, daß die Computernetze
die althergebrachten Kopplungen von Raum, Zeit und Funktionen, wie sie
bislang für organisierte Kooperationen vorausgesetzt werden
mußten, auflösen und diese technisch neu arrangieren (siehe
Abbildung 4, vgl. Johansen, 1988).
Kommunikationsnetze setzen soziale Gefüge durch ihre
technische Abbildung tendentiell unter einen höheren
Legitimationsdruck als bislang. Als
-- Ende S. 30 --
ein Beispiel für die
Explikation von Rollen durch die Anwendung des Internet, die die
Latenz von Konflikten latent bedroht, sei auf web4groups
(siehe W4G, 1996) hingewiesen. Hier wählen Autoren innerhalb
eines Groupware-Systems klassische Rollen aus: Während die Rolle
"Chefredakteur" jeden Text verändern darf, darf die Rolle
"Redakteur" nur den von ihm erstellten Text bearbeiten, die Rolle
"externer Beobachter" darf Texte nur lesen. Dies ist eine Strategie,
um Akzeptanz für eine neue Technik durch Abbildung bekannter
Muster zu gewinnen. Infolge des Zwangs zur Symbolisierung der Rolle
und der Distanzierung durch Computer-vermittelte-Kommunikationen
(bezeichnet als cmc,
computer-mediated-communication, vgl. Hiltz,
1978; Rice, 1984; CMC, 1996; Übersicht: Kukulies, 1996) wird
einerseits der Zusatzgewinn durch die Ausbeutung der informellen
Seiten professioneller Sozialbeziehungen erschwert. Andererseits
unterliegen Schwächere schärfer zugespitzten Beobachtungen,
d.h. sie können ebenso wenig auf die latente Schonung durch
Stärkere vertrauen.
In Betrieben lassen sich die E-Mails von Mitarbeitern leicht
überwachen (vgl. Schmitz, 1996; zur wichtigen Unterscheidung von
Inhalts- und Verkehrsdaten vgl. Gisor, 1996; zur Überwachung von
E-Mail durch Geheimdienste vgl. Engelfriet, o.J.). Ebenso leicht
können Mitarbeiter ihre E-Mails verschlüsseln (vgl.
Rost/Schack, 1995). Werden Mitarbeiter zensiert, indem festgelegt
wird, daß bestimmte Inhalte in den E-Mails nicht vorzukommen
haben (weil sie privat sind) und daß E-Mails nur offen lesbar
versendet werden dürfen (in verschlüsselten E-Mail
könnten Firmengeheimnisse verraten werden), so expliziert dies
ebenfalls das latente Machtgefüge und steigert den Legitimations-
und Leistungsdruck.
-- Ende S. 31 --
Insofern gibt es eine ganze Anzahl an Hinweisen dafür,
daß die Implementation von Kommunikationsnetzen in Betrieben
zunächst eher zur Verschärfung von ehedem latenten
Konflikten führen (vgl. Griese, 1992). Lee Sproull und Sara
Kiesler (Sproull/ Kiesler, 1992) berichten beispielsweise, daß
die Konflikte durch Einführung von betriebsinternen
Diskussionsforen so sehr eskalierten, daß einige der
Kontrahenten aus dem Gebäude eskortiert werden mußten.
Shoshana Zuboff (Zuboff, 1988) berichtet von der anfänglich
euphorisch begrüßten Einführung einer Mailbox in einem
Konzern, die dann wegen Unkontrollierbarkeit der Kommunikationen - es
gab nur noch kleine Dienstwege - von der Konzernleitung in ihrem
Leistungsumfang stark eingeschränkt wurde. Die durch das neue
Medium freigesetzten Konflikte waren nicht mehr einzuholen.
Wenn das Medium jedoch etabliert ist, dürften Hierarchien,
sobald sie erfolgreich gerechtfertigt werden können, wiederum als
besonders gefestigt gelten. (Fußnote-10: Optimal für das
Konfliktmanagement
ist vermutlich eine Mixtur von E-Mail-Disputen und
face-to-face-Verhandlungen, so meine Primärerfahrung. Als
Herausgeber zweier Bücher, die ich per E-Mail koordinierte, habe
ich gelernt: Je ernsthafter und folgenreicher Konflikte sich
hätten entwickeln können, desto größer empfanden
die Beteiligten den Druck, nicht mehr E-Mail zu benutzen, sondern in
traditionelle Beziehungsformen (Telefonate,
face-to-face-Gespräche) zurückzufallen, um die Konflikte zu
lösen. E-Mail ist zwar vorzüglich zum Austausch von Fakten
geeignet gewesen, sie reichte aber nicht hin, um die Gruppe als Gruppe
zusammenzuhalten (vgl. dazu einige Anmerkungen in: Rost, 1996b).
Erfahrungsgemäß kann es ferner zu Irritationen führen,
wenn einer der Beteiligten den Austausch von E-Mail als kultivierten
Briefwechsel wahrnimmt, während der andere E-Mail eher im Modus
des rauhen Informierens und Nachfragens verwendet.) Die
Legitimation im Bereich der Informationsverarbeitung wird vermutlich
zukünftig stärker mit Nachweis der Funktionalität und
Leistung gelingen und weniger mit dem Hinweis auf den Status.
Wenn Wissenschaftler, Sozialpolitiker, Ökonomen,
Gewerkschafter oder Essayisten im Zusammenhang mit Computernetzen von
Globalisierung sprechen, haben sie vorrangig die weltweit
stattfindende Auslagerung von Betriebsteilen im Blick. Die negative
Seite daran thematisieren sie als Fragmentierung und meinen
damit Entsolidarisierung, Entpolitisierung oder Bedrohung des
Normalarbeitsplatzes und der sozialstaatlichen Arrangements insgesamt
(vgl. schon problembewußt: Gruppe hochrangiger Experten, 1996).
Möglich ist die Virtualisierung von Unternehmen (vgl. Picot et
al., 1996) dabei nur aufgrund der vorgängig geleisteten
Integration durch Computernetze. Soziologisch gilt es deshalb
zu beobachten, welche zum Beispiel spezifisch neuen
Politisierungs-
-- Ende S. 32 --
potentiale durch Computernetze weltweit aktiviert
werden. Eine einseitige Verlustsemantik trifft nur zu, wenn das 19.
Jahrhundert die Referenz bildet, als Arbeiter in Fabriken auf Rufweite
zusammengefaßt sich in zündenden Reden gegenseitig
über ihre schlechte soziale Situation in Kenntnis setzten.
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