Martin Rost
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1 Die Modernisierung des wissenschaftlichen DiskursesMartin Rost (Erschienen ist dieser Text in leicht veränderter Form auch in: perspektive 21 - Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Politik, "Informationsgesellschaft", Heft 3, Winter 1998: 51-57, http://www.maroki.de/pub/sociology/mr_mdwd.html) Der wissenschaftliche Diskurs operiert weltweit funktional eigenständig anhand der Maßgabe von wahr und unwahr (vgl. Luhmann 1992). Er kann von keiner Institution und von keiner Wissenschaftlerin kontrolliert werden, auf deren Produktivität der Diskurs basiert. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite stellen Wissenschaftsinstitutionen den Wissenschaftlerinnen ein Karrieresystem bereit. Die Institutionen befinden sich dabei in einem latenten Konflikt, politische, ökonomische und kulturelle Formen mit der genuin wissenschaftlichen Form der Kommunikation zu verbinden. Diese Verbindung gesellschaftlich überzeugend zustandezubringen - in Europa wird traditionell ein politischer, in den USA ein ökonomischer Überhang inkauf genommen - ist die Existenzgrundlage der Wissenschaftsinstitutionen. Wissenschaft entsteht, wenn wissenschaftliche Diskurse und wissenschaftliche Institutionen gekoppelt sind. Zur Krise der Wissenschaft kommt es, wenn die Kopplung zwischen der Reproduktion des wissenschaftlichen Diskurses und der Reproduktion der wissenschaftlichen Institutionen Gefahr läuft zu reissen. Diese Gefahr entsteht, wenn sich eine der beiden Seiten (aus der Sicht der anderen Seite) zu schnell und zu gründlich ändert, ohne der anderen Seite hinreichend Zeit und Struktur zur Coevolution (die sich je nach Umständen und Betroffenheit als Reparatur, Reform oder Revolution bezeichnen ließe) zu geben. Die Veränderung von Wissenschaft steht dabei in einem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungen überhaupt - dies ist kein bloß pflichtgemäß, innerhalb einer Gesellschaftsanalyse einfach immer abzuleistender, Satz. Vielmehr sind die seit 30 Jahren zyklisch wiederkehrenden Studierenden-Proteste ein sehr empfindlicher Indikator für die Nachhaltigkeit sozialer Veränderungen. Niemand protestiert so leicht wie Studierende. Üblicherweise wird die Krise der Wissenschaftsinstitutionen bei einer Aktualisierung des Konflikts darin ausgemacht, daß diese einseitig dazu neigen, wissenschaftsexternen Kalkülen zu folgen und damit die Orientierung an Wissenschaft preiszugeben, was die Institutionen selbst obsolet werden ließe. Universität als Berufsschule Das ist zu einem wichtigen Teil auch vollkommen richtig. Ganz offensichtlich sind Universitäten seit Jahrzehnten bereit, die Funktionen höherer Berufsschulen für anspruchsvolle Dienstleistungen (Medizin, Recht, Betriebswirtschaft, Religion) zu übernehmen. Hier geben sie die Orientierung an Wissenschaftlichkeit bereitwillig preis. Doch es ist weniger der latente Imperialismus von Politik und Kapital, der sich mit den rein ökonomisch orientierten Evaluierungen der Hochschulen der letzten Jahre nun endgültig und unverschämt die Bahn bricht, während in den 70er Jahren noch eine politische Orientierung zur Bewertung von Hochschulen vorherrschte. Diese gesellschaftlichen Größen operieren so, wie es nicht anders zu erwarten ist. Entscheidend ist, daß die Wissenschaftsinstitutionen den externen Ansprüchen nichts entgegenzusetzen haben. Sie befinden sich in einer sehr schwachen Verfassung. Sie sind leicht extern aufzumischen, weil ihnen der Zustand des wissenschaftlichen Diskurses selbst zu wenig strukturierenden Halt gibt, um eine selbstregulative "Idee von Universität" (Krippendorf 1996) zu entwickeln. Und man kann die Folgen daraus dann feuilletonistisch formulieren:"Die Postmoderne verabschiedet den Intellektuellen." (Baecker 1997: 15) Materialistischer formuliert: Es fehlt der Universität an einer hinreichend spezifischen Produktivität, die sie ökonomisch und politisch interessant werden ließe gerade durch ihre funktionale Eigenständigkeit und Unabhängigkeit bei der Bearbeitung bestimmter Problemstellungen. Der weltweite wissenschaftliche Diskurs bietet keinen Halt, weil er aufgrund der vorherrschend primitiven Kommunikations- und Bewertungstechniken sowie im Vergleich insbesondere zur Ereignisproduktion des ökonomischen Systems relativ viel zu langsam operiert. Die wissenschaftliche Bearbeitung - also die methodische Beobachtung und Vertextung ihrer physikalischen, sozialen und psychischen Umwelt - geschieht nur noch reaktiv. Wissenschaft kommt nicht mehr vor die Verhältnisse, die selbstkritisch zu beobachten ihre Funktion ist. Ihre Analyse- und Prognosefähigkeiten überzeugen immer weniger, sie kann weniger denn je legitim bei extern nachgefragten Problemlösungen Führung beanspruchen. Wissenschaft in der derzeitigen Verfassung kommt einfach immer zu spät und ist durch die relativ fehlende diskursive Kontrolle gezwungen, bei aktuell anstehenden Problemlagen zu regredieren: Laien müssen nicht nur in besonders dramatischen Situationen, sondern in jedem Falle allein in die wenig vertrauenswürdigen Ansichten von Experten vertrauen, weil es unter den derzeitigen Bedingungen einfach zu lange dauert, bis der wissenschaftliche Diskurs auf Resonanz fiele, um das infragestehende Problem tatsächlich wissenschaftlich maximal leistungsfähig zu bearbeiten. Das wiederum schadet auf Dauer der Reputation der strukturell permanent überforderten akademischen Experten (vgl. Clausen 1994: 26ff). Miserable Diskurspraxis Die miserable Verfassung der Diskurspraxis rührt nicht allein quantitativ aus der langwierigen Diskursreproduktion etwa über Zeitschriftenbeiträge und Bücher her, sondern die Bewertungspraxis von Diskursbeiträgen erfolgt unterkomplex nach zunftpolitischen Kalkülen. Diskursbeiträge werden in einem zu langwierigen Prozeß strukturkonservativ mit einer zu engen Porengröße gefiltert oder können politisch auch durchaus an sämtlichen Filtern vorbeigeführt werden. Wie gering der Wirkungsgrad zur Reproduktion des traditionellen wissenschaftlichen Diskurses ausfällt, wird von dem Moment an klar, an dem ein neues Kommunikationsmedium wie das Internet als Alternative zur Verfügung steht. Die Möglichkeiten, Diskurse in den Mailinglists und Newsgroups zu führen, sind betörend: Sie im Internet einzurichten und zu verwalten, verursacht geringere Kosten und verlangt weniger Kompetenzen als eine Fachzeitschrift. Demokratietheoretisch bieten sie für Leser und Autor eine wünschenswert leichte Teilhabe und erreichen trotz weltweiten Zugangs eine hohe Umschlaggeschwindigkeit bei aufeinander Bezug nehmenden Texten. Die Texte sind zudem maschinell zugänglich: Obwohl einzelne Computer ohne menschlich-semantische Intelligenz als triviale Syntaxmaschinen operieren, können sie im Netzverbund die Kommunikationen menschlicher Beobachter (im Unterschied zu deren weitaus weniger zugänglichen Mentalzuständen) verarbeiten und ihrerseits Kommunikationen anstoßen, die für menschliche Beobachter einen Sinngewinn abwerfen. Elektronische Diskurs-Medien sind zwar leistungsfähig, aber belanglos Bislang sind die Diskurse der elektronischen Medien nicht in das etablierte akademische Bewertungssystem einbezogen und gelten deshalb als professionell irrelevant. Nach wie vor muß eine wissenschaftliche Publikation zunächst auf Papier erscheinen, bevor eine elektronische Sekundärverwertung anstehen kann, sofern der wissenschaftliche Autor von seiner Tätigkeit zu leben hat. Mit dem sukzessiven Einbau neuer Kommunikationstechniken und deren Nutzung zunächst durch die niederen Ränge an den Hochschulen (vgl. Pelz 1992) verändern sich zudem die Verfahren zur Selektion der Beiträge. Angesichts der Vorteile und der schon seit Jahren existierenden Preprint-Server (wie z.B. dem Ginsparg-Server für Physiker, vgl. Henke 1995) zweifelt aber niemand daran, daß die elektronischen Publikationsmedien die papierenen alsbald ablösen. Die derzeit anstehenden Umstellungen durch den Einbau der neuen Kommunikationstechniken lassen sich knappst auf die allgemeine Formel bringen, daß die gesellschaftlichen Bereiche, die mit anspruchsvoller Informationsverarbeitung befaßt sind, einem Prozeß der "nachholenden Industrialisierung" (vgl. Rost 1996a) bzw. einer nunmehr anstehenden Modernisierung der wissenschaftlichen "Aufmerksamkeitsökonomie" (vgl. Goldhaber 1997) unterliegen. Die Technisierung wissenschaftlicher Kommunikationen führt zum einen zu einer verstärkt auch automatisierten Textbearbeitung und zum anderen zu einer Demokratisierung und Arbeitsteilung bei der Diskursproduktion. Die faktisch derzeit anstehende Ökonomisierung der Universitäten muß dann nicht zwingend zu einer Preisgabe der Wissenschaftsorientierung führen, wenn diese mit einer Modernisierung auch der Diskurstechniken und der politischen Verhältnisse an den Universitäten einherginge. Industrialisierung und "Idee von Universität" So gesehen ist die moderne Version einer "Idee von Universität" in Einklang zu bringen mit dem, was wissenschaftstheoretisch ohnehin auf der Agenda steht: dem leistungsfähigen Diskurs einer scientific society(!). Die alte Idee schöpfte noch aus dem genialen Forschungssubjekt, das unabhängig von Ökonomie, Politik und Religion forschen und lehren können sollte. Und speziell in Deutschland wurden bis ins 20. Jahrhundert hinein damit ja auch große Erfolge gefeiert. Nunmehr gilt es, in den allseitigen Reformbemühungen nicht primär auf eine Reproduktion kognitiv besonders Talentierer zu zielen oder den Zugang zu den Universitäten so schwer wie irgend möglich zu machen, sondern es gilt, produktive Diskursbedingungen herzustellen. Hierbei politische Partizipation aller Hochschulangehöriger zu fordern, ist nicht bloß politisch-korrekt oder gar moralisch gut, sondern ein Gebot zur Steigerung der diskursiven Leistungsfähigkeit der Hochschulen, die gemessen am Gesamtpersonalstand ihre Ressourcen an Wetware atemverschlagend schlecht nur zu nutzen wissen. Studierende haben kein Ausbildungssalär abzugeben, sondern müssen in die Wissenschaft als Aktivposten eingebunden werden und sind entsprechend zu entlohnen. Zum Schluß möchte ich drei Aspekte der Technisierung der Diskursreproduktion ansprechen, die meiner Ansicht nach zur Modernisierung des wissenschaftlichen Diskurses und der Wissenschaftsinstitutionen beitrügen: Ein besser strukturierter wissenschaftlicher Diskurse kann nur auf der Basis modernster Kommunikationstechniken stattfinden. Das Führen von Diskursen, also die kommentierende Bezugnahme von Texten auf Texte, muß dafür professionell anerkannt und institutionell gefördert sein. Die Herstellung von Diskursbeiträgen muß dabei unter Anwendung effektivitätsteigernder Informationstechniken geschehen. Konkret kann das heißen, dafür auf Groupware-Applikationen (vgl. Burger 1997) zurückzugreifen, die es gestatten, mit einem hohen Grad der Arbeitsteilung und einer breiten technischen Unterstützung von Diskussionen und Entscheidungsverfahren an der Herstellung von Forschungskonzeptionen, Untersuchungen und Publikationen zu arbeiten. Wissenschaftlerinnen unterstehen unabweisbar dem Zwang zur Kreativität, weil Kreativität - die Unterscheidung von Überraschung und Willkür - das ist, was die Computer übriglassen müssen. Traditionell formuliert geht es um die Umstellung von Arbeit auf Spiel. Wissenschaftler sind zukünftig mehr denn je genötigt, leicht-sinnig möglichst viele unwahrscheinliche kommunikative Anschlüsse bis knapp an die Grenze des Verständnisabrisses wahrscheinlich zu machen, prototypisch auszutesten und sie dem regulativen Diskurs auszusetzen. Eine solche Forderung nach mehr Diskursen erscheint angesichts der durch die neuen Kommunikationsmedien angeblichen drohenden Publikationsflut paradox. Sollte man nicht eher für das Gegenteil sorgen, daß möglichst nicht mehr so viel publiziert wird? Die Lösung in der Beschränkung zu suchen hieße, wieder in die zunftpolitische Tradition zurückzufallen, die mangels intelligenter Ressourcen lieber ignoriert statt befördert. Zweifellos wird die alte Wissenschaftselite diesen Weg ausprobieren, so wie einst die Zünfte sich vergebens durch Zollbeschränkungen gegen die Einfuhr der Produkte der effektiveren Industrieproduktion stemmten. Das zu lösende Problem besteht nicht in dem seit mindestens zwei Jahrunderten sowieso vorhandenen Überangebot an Texten, sondern im Fehlen von fein trimmbaren, technischen Filterverfahren zur Bewertung von Texten. Sie fehlen deshalb, weil wissenschaftliche Texte bislang aufgrund der sozialen Verfassung des Wissenschaftssystems auf Papier gedruckt zu erscheinen haben. Moderne Bewertungsverfahren sind nicht mehr allein und primär auf die Kopfarbeit von Redakteuren und Lektoren angewiesen. Hier läßt sich zum Beispiel auf Programme verweisen, die aufgrund von Begriffen, Autorennamen oder formalen Eigenschaften aus dem Gesamtangebot elektronischer Publikationen bestimmte Beiträge herauszufiltern gestatten. Eine intelligente Dynamisierung solcher Filterfunktionen bietet zum Beispiel GroupLens. Die Kernidee besteht darin, daß Mitglieder einer Gruppe die Beiträge in elektronischen Foren bewerten und ihre Bewertungen an die anderen Mitglieder weiterleiten. Beim Scoring-Server-Verfahren, an dessen Realisierung gerade gearbeitet wird, schicken die Leser ihre Bewertungen - in Form von Schulnoten - an einen Computer, der die Bewertungen verarbeitet und in regelmäßig erscheinenden Reports publiziert. Autoren schlecht-bewerteter Texte werden mittelfristig entmutigt, weitere Texte anzufertigen und Autoren sehr guter Texte werden ermutigt, weiterhin Beiträge anzufertigen. Solche Verfahren sind unvollkommen. Sie zeigen aber immerhin, wie schon heute mit bescheidenem Technikeinsatz Textbewertungen auf einem höheren technischen und organisatorischen Niveau der Bewältigung des Angebots erfolgen könnten. Die Anzahl und Variationsbreite von Diskursbeiträgen zu steigern und die Auswahlverfahren von Diskursbeiträgen zugriffsfester an den Interessen der Leser orientiert auszulegen, führen allein noch nicht zur qualitativen Verbesserung der Evolution wissenschaftlicher Diskurse. Als dritter Aspekt müssen auch Verfahren verbessert werden, mit denen sich Texte in einem kanonisch anerkannten, enzyklopädischen Referenztextkorpus stabilisieren lassen. Liegen wissenschaftliche Texte ausnahmslos in einem digitalisierten Medium vor, so ließe sich dort in einer Ebene unterhalb des Nutztextes 1. Ordnung die Art der Bezugnahme von Texten auf Texte auszuweisen. Eine Explikation der Diskursgrammatik wäre ergonomisch wünschenswert, böte einen enormen Strukturierungsgewinn für wissenschaftliche Diskurse und käme obendrein der Maschinenbearbeitung entgegen. Für eine explizite diskurslogische Kopplung von Sätzen an Sätze ließe sich auf standardisierte Bezeichnungsformen zurückgreifen, die die qualitativen Bezüge zwischen Texten - konkret kann man hier an Links zwischen Hypertexten denken - in einer unterhalb der Textebene befindlichen Schicht kennzeichneten. Dazu geeignet werden z.B. die Searleschen Sprechhandlungstypen (Bemerkung, Information, Frage, Angebot, Auftrag, Zusage, Spekulation), die sich spezifisch wissenschaftlich zuspitzen ließen: Zustimmung, Ablehnung, Deduktion, Induktion, Abduktion, Beispiel, Beleg, Begründung usw. (vgl. die Anmerkungen zu einer dreistellig angelegten Diskurs-Markup-Language in: Rost 1996b). Die Autoren müßten ihre Bezugnahmen auf Texte und die Entwicklung von Sätzen aus Sätzen auf diese Weise ausweisen und anderen Texten Ankopplungsmöglichkeiten anbieten können. Dadurch steckten sie sozusagen strukturelle Intelligenz in ihre Beiträge, die die Computer zu semantisch überzeugenderen Resultaten als derzeit kommen ließen. Hat sich daraus dann ein enzyklopädischer Textkorpus stabilisiert - konkret wäre hierbei an eine weiterentwickelte Version des Hyper-G (vgl. Flohr 1997) zu denken - kann die Evolution von Argumenten ungleich diskurszugänglicher und auf einem sehr viel feineren Differenzierungsniveau als bislang geschehen. Dann würde sich vermutlich auch zeigen, daß bloße Texte zu schreiben nicht länger genügt, sondern ihnen gleich noch Operationen mitzugegen sind (das nennt man ein Programm), die weitgehend formal selbsttätig die Schnittstellen zu anderen, mit Operationen ausgestatteten Texten aushandeln. Maximal knapp formuliert: Eine Moderniserung des wissenschaftlichen Diskurses verlangt die Installation eines wissenschaftlichen Kommunikations-Protokolls auf der Basis von Computernetzwerken. 1.1 Literatur
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