Martin Rost
Publikationen

Thesen zum "Abschluß des Projekts der industriellen Revolution" am Beispiel des Verhältnisses von Wissenschaft und Computernetzen

Martin Rost, April 1996

Diese Thesen sind ein überarbeitetes Konzentrat eines anläßlich der IMD-Konferenz in Hamburg am 20.01 1996 gehaltenen Referats im Arbeitskreis "Bildung & Wissenschaft in der Informationsgesellschaft" (http://www.maroki.de/pub/sociology/mr_imd.html). Eine andere Fassung, mit weiteren Perspektiven und Belegen der zentralen Thesen, findet sich in: Rost (Hrsg.), 1996: Die Netzrevolution - Auf dem Weg in die Weltgesellschaft, Frankfurt am Main: Eichborn-Verlag

These 1: Die Computernetze industrialisieren diejenigen gesellschaftlichen Bereiche, die mit der Verarbeitung nichttrivialer Mitteilungen befaßt sind und bislang von der Industrialisierung (und Demokratisierung) ausgenommen waren.

These 1.1: Der Abschluß der industriellen Revolution wurde zu früh ausgerufen und damit anschließend bestimmte Formen der sozialen Marktwirtschaft zu früh als bestmögliche Kompromißformeln ausgegeben. Es werden vermutlich neue Debatten über Bürgergeld und allgemeine Grundversorgung geführt werden, die an das anschließen, was Mitte der 80er Jahre von Programmatikern in der SPD und den Grünen, wiederum im Anschluß etwa an Publikationen von Andre Gorz, einige Monate lang ohne Erfolg thematisiert wurde.

These 2: Wissenschaft, als ein Bereich, in dem die anstehende Industrialisierung deutlich zu beobachten ist, stellt sich durch den Diskurs, als Anschluß von Publikationen an Publikationen, her. Bücher und Zeitschriften sind die Medien des maßgeblichen wissenschaftlichen Diskurses.

These 2.1: Der Buchdruck ermöglichte das Entstehen moderner Wissenschaft durch die Ablösung des Textes vom Sprecher und die Bezugnahme von Texten auf Texte, die sich, wenn Positionen im Diskurs unterentwickelt sind, ihre Autoren suchen.

These 3: Wer auf die wissenschaftlichen Diskursmedien zugreift und dadurch am wissenschaftlichen Diskurs teilnimmt und dort, etwa in Zitaten berücksichtigt wird, gehört zur Scientific Community. Wissenschaftspolitik wird betrieben durch Verwaltung der Zugriffe auf die Diskursmedien.

These 3.1: Der Diskurs innerhalb der Scientific Community ist in dem Sinne demokratisch verfaßt, als daß es dort kein letztes Wort gibt und in freier Rede "der seltsame Zwang des besseren Arguments" (Habermas) eine Chance hat. Jedoch unterliegen die Zugriffe auf die Diskursmedien keinen demokratischen Regelungen.

These 4: Computernetze wie das Internet werden in den Wissenschaften, trotzdem sie sich als Diskursmedium ausgezeichnet eignen, bislang nicht zur Publikation von relevanten wissenschaftlichen Beiträgen genutzt. Es werden bestenfalls private EMails verschickt; durchaus heftige, aber folgenlose Diskussionen geführt oder bereits klassisch Publiziertes sekundärverwertet. (Selbst bei Preprint-Servern in den Naturwissenschaften ist wissenschaftliche Relevanz und Dignität noch immer an auf Papier erscheinende Zeitschriften gebunden.)

These 5: In den Wissenschaften herrschen im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Bereichen primitive Produktionsverhältnisse vor. Indizien dafür lassen sich in drei Dimensionen ausmachen:

These 5.1: Das Selbstbild vom Wissenschaftler orientiert sich am genialischen Kunsthandwerker, der primär sich selbst als Quell der Erkenntnis und den Diskurs bestenfalls als Anreger wahrnimmt. Ein Kunsthandwerker ist psychisch weitgehend unfähig, arbeitst eilig in einem formal gleichberechtigt strukturierten, ergebnisorientierten Team zu arbeiten. Wird er dazu gezwungen, erlebt er dies als "Praxisschock".

These 5.2: Zwischen Autoren und Verlagen, zwischen Wissenschaftlern und Kultusbehörden sowie insbesondere an den Hochschulen gelten Regeln gemäß zunftartig-patriachaler Sozialverhältnisse. Zeitschriften dienen nicht dem Streit um das bessere Argument, allenfalls dokumentieren sie diesen, sondern sie funktionieren primär als Reputationsspender. Zeitschriften und Autoren sind bemüht, von der Reputation des anderen zu profitieren. Entsprechend den weitgehend zusammengebrochenen Diskursen vorenthält die Gesellschaft ihrem Wissenschaftssystem die Alimentierung und versucht, diese zu Berufsschulen zu trivialisieren.

These 5.3: Die Herstellung, Verarbeitung und Verbreitung von Publikationen geschieht auf niedrigem technischen Niveau, selbst wenn ein PC im Modus der Schreibmaschine eingesetzt wird. Dies wird nicht als Problem des Wissenschaftssystems wahrgenommen und de ssen Lösung dem privaten Engagement überlassen.

These 6: Entsprechend der Borniertheit von in Zünften zusammengefaßten Kunsthandwerkern herrscht eine ebenso auftrumpfende wie diffuse Furcht vor Technik und organisatorischen Innovationen vor. (An die Stelle der Furcht vor dem PC, die vor wenigen Jahren g ewichen ist, ist nun die Furcht vor den Computernetzen getreten. Hatte man etwa ein knappes Jahrzehnt lang versucht, die unbestreitbaren Vorzüge von PCs zur Herstellung von Texten feuilletonistisch dadurch wegzuquatschen, indem man behauptete, diese Maschi nen evozierten, da diese binär funktionierten, zwangsweise bei ihren Benutzern ein kontingenzfreies Schwarz-Weiß-Denken, so versucht man seit etwa Mitte der 90er Jahre das gleiche bei den Netzen mit dem Hinweis auf die dadurch einbrechende Informationsflut , die es einem Leser nicht mehr gestatte, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Bei diesen Formen magischer Problembewältigung handelt es sich nicht um bloß individuelle Strategien derjenigen, die nicht wissen, wie sie sich den Netzen nähern sollten, sondern diese bilden den individuellen Ausdruck der zunftartig-innovationsfeindlichen Sozialverhältnisse in den Wissenschaften.)

These 6.1: Die These, daß durch Netze eine Informationsflut über Wissenschaft und Wissenschaftler hereinbräche, ist deshalb falsch, weil diese Informationsflut längst vorhanden ist. Zu Beginn des 19. Jahrhundert gab es 100 wissenschaftliche Journale, zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählte man 10 Tausend, am Ende des 20. Jahrhunderts schätzt man deren Zahl auf 1 Million (s. Rost 1996: 174). Der Eindruck des guten Informiertseins kann heute allein nur entstehen aus Unkenntnis über das Maß der dafür notwendigen Ignoranz. (So ist in der amerikanischen und deutschen Mathematik das Publikationssystem bereits zusammengebrochen, weil a) die Anschlußgeschwindigkeit von Publikationen an Publikationen auch mit Rückgriff auf Preprints zu gering war; weil b) einfach kein Platz mehr in den Bibliotheken zum Aufstellen von Büchern vorhanden war bzw. ist und weil c) in einigen Fällen nicht einmal mehr Geld für den Bezug nur der wichtigsten Zeitschriften zur Verfügung stand bzw. steht. Dort begann man 1994, auf das Internet umzustellen.)

These 6.2: Das Problem wissenschaftlicher Kommunikation besteht nicht in der Informationsflut, denn die Variationen an Thesen, Argumenten, Beobachtungen... sind in modernen Gesellschaften evolutionär von großem Vorteil. Das Problem besteht nicht in der Produktion-, sondern primär in der Selektion von relevanten Beiträgen, an die weitere Beiträge anschließen können.

These 6.2.1: Eine durchgängige Digitalisierung sowohl der Produktion, Verarbeitung und Distribution von wissenschaftlichen Publikationen wäre die Voraussetzung für die Steigerung der Leistungsfähigkeit des Wissenschaftssystems, weil dadurch u.a. die Selektion von Beiträgen nicht nur beim einzelnen Leser, sondern auch in den Redaktionen und Lektoraten, maschinell unterstützt würde. Auf der Software-Ebene entstünde das Problem, in welchem Format Texte publiziert werden, damit der Zugriff auf Publikationen, d ie anhand der Differenz relevant/ nicht-relevant beobachtet werden, maschinell unterstützt werden kann. Dieses Format muß unabhängig von Betriebssystemen und Textverarbeitungen sein und den diskursiv orientierten Anforderungen genügen. (Ein solches Format, das man als eine Diskurs-Markup-Language (DML) bezeichnen könnte, ließe sich vermutlich ähnlich konzeptionieren wie die Kennzeichnungen in LaTeX-, HTML- oder SGML-Dateien. Deren Layout-Elemente müßten durch spezifisch diskurspositionierende Elemente erset zt werden und die Art des Anschlusses von Sätzen an Sätze (etwa: These, Indiz, Beispiel, Ableitung, Beweis, Gegenbeweis, Spekulation, Ergänzung, Anekdote, Erinnerung, Prognose, ...) innerhalb eines Textes und zwischen Texten kennzeichnen. Der Leser könnte bei derart aufbereiteten Texten selbst bestimmen, auf welchem Auflösungsniveau er einen Text lesen möchte, weil der Textbrowser, entsprechend den Auszeichnungen, Passagen gezielt zeigte (bei Bedarf die gesamte Evolution von Thesen vom Anfang schriftlicher wissenschaftlicher Kommunikation), oder ausblendete. Durch diese Art der Auszeichnung könnten abstractgenerierende- und textbewertende Maschinen entwickelt werden, die die Selektionsarbeit von Redaktionen und Autoren unterstützten und industriell hergeste llte Gütesiegel für Texte anfertigten. Reine Kopfarbeit und Bewertung von Publikationen wird zwar nach wie vor bestehen bleiben, aber teuer bezahlt werden müssen. Es entstünde mit einer DML eine explizit ausgewiesene Metasprache, die es möglich machte, (vernachlässigte) Linien in der Evolution von Thesen etc. nachzuweisen und diesen nachzugehen.)

Zusammenfassung: Auf Basis einer durchgängigen Digitalisierung des Publikationssystems sowie der Standardisierung eines Formats wird eine formal gleichberechtigte Arbeitsteiligung auf einem effizienten Level möglich. Der Wechsel zum elektronischen Medium für wissenschaftliche Publikationen ist ökonomisch unausweichlich und wissenschaftlich funktional. Redaktionen übernehmen im Netz nach wie vor Selektionsfunktionen, müssen sich aber, wie auch die Autoren, ungleich mehr als derzeit Diskursen stellen. Auch wenn alte soziale Formen das neue Medium umlagern, so werden insgesamt die noch vorherrschenden Zunftstrukturen insbesondere an den Hochschulen aufgelöst, weil Zunftressourcen im neuen Medium entwertet und technische sowie diskursive Kompetenzen aufgewertet werden. Durch Steigerung der Diskursfähigkeit steigt die Leistungsfähigkeit des Wissenschaftssystems und erhält wieder eine spezifisch an Wissenschaft orientierte Anschlußfähigkeit an andere gesellschaftliche Systeme. Die Fortsetzung der Industrialisierung der Gesellschaft erzeugt desweiteren eine Fortsetzung wieder schärfer ausgetragener Konflikte um entsprechend angemessene Gesellschaftsstrukturen.