Dieser Text ist veröffentlich in:
- Heibach, Christiane/ Bollmann, Stefan (Hrsg.), 1996: Kursbuch Internet -
Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur:
Bollmann-Verlag
- http://www.maroki.de/pub/sociology/mr_dml.html
- E-Mail: martin-rost_at_web_de
("_at_" bitte durch "@" ersetzen, "_de" bitte durch ".de")
1996.10.03., Version 1.2
Vorschläge zur Entwicklung einer wissenschaftlichen
Diskurs-Markup-Language
Martin Rost
Die Nutzung von Netzdiensten (E-Mail, Diskussionsforen,
World-Wide-Web, Suchmaschinen, WAIS, FTP-Archive, per Telnet
erreichbare Datenbanken usw.) ist für viele
Informationsverarbeiter alltäglich geworden. Recherchen und
gesellschaftsweite Diskurse wurden enorm beschleunigt oder
überhaupt erst zugänglich gemacht. Aber der Eindruck von
einer neuen Qualität in der wissenschaftlichen Kommunikation
kommt nicht auf. Dies liegt u.a. daran, daß die
Möglichkeiten der digitalen Medien bislang überwiegend
gemäß den Standards eines auf Papier basierenden
Publikationssystems genutzt werden...
Diskussionsbeiträge in wissenschaftlichen Zeitschriften und in
Netzdiskussionsforen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Ein
besonders wichtiger Unterschied ist die Orientierung am
Diskurs: Während der Autor eines Zeitschriftenbeitrags starke
Gegenpositionen vorwegnimmt, um möglichst keinen Diskurs auf sich zu
ziehen, der die Qualität seines Beitrags oder, schlimmer noch, die
Kompetenz des Autors in Zweifel ziehen könnte, zeichnen sich gute
Beiträge in den Diskussionsforen der Netze dadurch aus, daß sie ihre
Kontrahenten pflegen, indem sie ihnen aussichtsreiche Gegenpositionen
überlassen oder gut konturierte Lücken zu füllen gestatten.
Ist im Netz ein Kontrahent gefunden (sofern man unter einem anderen Namen
auftritt, was im Netz technisch problemlos realisierbar ist, kann man die
Gegenposition gleich mit übernehmen), entsteht ein ausreichend
differenziertes Muster, das den Diskussionssog für andere Beobachter der
Debatte verstärkt. Es stoßen verläßlich weitere Teilnehmer hinzu, die
Kommentare ihrerseits kommentieren, Analysen und Synthesen anbieten und
versuchen, ein Thema in bestehende Taxinomien und Theorien einzuordnen.
Nebenbei bemerkt: Wer unter diesen Bedingungen über die Unmengen an
Datenmüll im Netz klagt, filtert falsch,
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nämlich nur im massenmedial
gewohnten Modus des Konsumenten. Statt dessen gilt es, das vom Computernetz
aufgespannte soziale Netz der Diskursteilnehmer mit bestimmten Themen zu
reizen, wenn es sich mit diesen Themen beschäftigen soll. Man darf dabei
mit einer hohen Motivation der Teilnehmer rechnen, denn diese haben recht
hohe Opportunitätskosten (Hardware, Software, Kompetenz) in Kauf genommen,
um an Debatten in diesem Medium teilnehmen zu können.
Technisch nimmt der Teilnehmer eines Diskussionsforums Bezug auf den
Beitrag eines anderen Teilnehmers, indem er den kommentierwürdigen
Teil im Text-Editor stehenläßt und ihn am Anfang einer jeden Zeile
typischerweise durch ein ">" als Zitat kennzeichnet. Die dritte
Generation von Kommentaren beispielsweise ließe sich auf
diese Weise anhand von ">>>" zu Anfang einer Zeile erkennen (in
einigen Newsreadern oder im WWW-Browser Netscape werden die
Kommentar-Verkettungen der Beiträge graphisch dargestellt). Es bleibt
dabei dem Kommentator überlassen, ob er die Namen und E-mail-Adressen
seiner Vorgänger-Kommentatoren im Text selbst aufführt oder diese
löscht und allein deren Aussagen stehenläßt.
Auf diese Weise entsteht in länger anhaltenden Netzdebatten ein
Gesamttext, bei dem die Werkshoheit nicht mehr von einem
einzelnen Autor, sondern nur von der Gruppe der Debattenteilnehmer
insgesamt beansprucht werden kann. Der Text ist zu einem
Kollektivprodukt geworden. Der Diskurs hat sich gewissermaßen
Teilnehmer gesucht, um diese als "Wirtstiere" zu benutzen. In den
Religions- und Philosophie-Diskussionsforen des UseNet finden zum
Beispiel regelmäßig Debatten über Atheismus statt, in denen jedes Mal
wieder sämtliche Positionen und Argumente präsentiert werden. Solche
Figuren werden gern von Netz- bzw. Diskurs-Neulingen weitergereicht.
Sie sind gute Beispiele für das, was Dawkins als "Meme" bezeichnet
hat.
An den Texten der Netzdiskussionen ist ferner ein linguistischer
Aspekt bemerkenswert. So werden darin Texteinstreuungen benutzt, die
vom Duden bislang nicht erfaßt wurden. Eine ziemlich bekannte
Texteinstreuung sind die um 90-Grad nach rechts gedrehten
Smilies (etwa :-) oder |-( ), deren Funktion darin besteht,
einen Satz bzw. Absatz als ironisch, als witzig, als
nicht-ernstgemeint oder auch als Unterstreichung des Verärgertseins
zu kennzeichnen. Smilies kompensieren den Ausfall des relativierenden
Mienenspiels, etwa eines Augenzwinkerns, das eine Aussage in
Interaktionen face-to-face begleiten würde. Smilies werden deshalb
auch als Emoticons bezeichnet. Ein Autor, der Emoticons verwendet,
versteht seinen Beitrag in gewisser Weise als ein Gespräch. In
wissenschaftlichen Debatten werden Emoticons dagegen kaum benutzt,
vermutlich weil die Autoren hier ihre Beiträge stärker in
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die Nähe von Zeitschriften-Artikeln gerückt wissen wollen.
Da es Texteinstreuungen gestatten, ansonsten aufwendig zu
formulierende Passagen, die die Interpretation steuern sollen,
abzukürzen, mögen zunehmend häufiger Autoren schon aus Gründen der
Effizienz darauf nicht verzichten. Typisch sind
Texteinstreuungen wie folgende:
<Sarkasmus on>
Gezielt provokant formulierte Passage
<Sarkasmus off>
Offensichtlich vertraut der Autor in diesem Fall nicht darauf, daß
sich die von ihm intendierte Interpretation eines Satzes von selbst
versteht. Er hebt eine Interpretation heraus, die ansonsten
gleichberechtigt neben anderen Interpretationsmöglichkeiten stünde.
Texteinstreuungen, die auf diese Weise eine Passage kennzeichnen,
werden "Markups" oder "Tags" genannt. Tags entsprechen im Grunde
Kurzformen von Regie-Anweisungen in einem Drehbuch. Auch
wenn diese Tags selbst wiederum einer Interpretations-Unschärfe
unterliegen (was bedeutet Sarkasmus?), so ermöglichen sie doch für
Autor und Leser eine insgesamt größere Kontrolle über das Set
möglicher Interpretationen einer Textpassage. Linguisten würden ein
Tag dieser Art als Perlokution bezeichnen.
Tags werden zum Beispiel in den HTML-Texten (Hypertext Markup
Language) des World-Wide-Web verwendet. Die HTML-Tags dienen
hier allerdings nicht als Interpretationsanweisungen an die Leser,
sondern zur Beschreibung der Textstruktur, die von Programmen zum
Lesen von HTML-Texten (WWW-Browser, etwa Netscape oder Mosaic)
ausgewertet werden. Bislang wird HTML jedoch vornehmlich als
Text-Layout-Sprache benutzt. Ein HTML-Tag wie beispielsweise
<B>Wort</B> sorgt dafür, daß
das Wort "Wort" auf dem Bildschirm fett dargestellt wird. Ferner
dienen HTML-Tags dazu, Verbindungen ("Links" oder "Hypermedia-Links"
genannt) über das Internet zu anderen HTML-Texten zu knüpfen, die
sich irgendwo im Netz auf anderen Rechnern befinden.
HTML wurde ausgehend von der SGML (Standard Generalized Markup
Language) entwickelt und stellt eine Art Untermenge der letzteren
dar. SGML wird zum Beispiel von Lexika-Redaktionen benutzt,
um aus einem einzigen, digitalisiert vorliegenden Ausgangstext
Publikationen für unterschiedliche Medien (z.B. Papier,
Offline-Datenbanken auf CD-Rom oder Online-Datenbanken im Netz) und
für verschiedene Lexikaformen (Personen-, Geschichts-, Sozial-,
Technik-Lexikon) herzustellen. Firmen wie Volkswagen oder Lufthansa
benutzen für ihre internen Publikationen ebenfalls ein SGML-Format,
weil es dadurch möglich wird, je nach Anforderung - etwa der
Techniker an den CMC-Maschinen, der Konstrukteure an den
CAD-Systemen und der Kaufleute mit
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ihren Tabellenkalkulationen - aus einem Gesamttext-Korpus einzelne
Dokumentationen zu einem Produkt mit spezifischen Perspektiven
zusammenzustellen und graphisch aufzubereiten.
Der Strukturverlust, den ein Leser eines auf Papier
ausgedruckten Lexikons hinnehmen muß, ist, informationsökologisch
gesehen, katastrophal, weil der Informationsgehalt eines Lexikons so
nur zu einem Bruchteil ausgeschöpft werden kann. Blieben die
SGML-Tags, mit denen die Lexikon-Redaktionen ohnehin arbeiten, in den
Publikationen erhalten, wäre ein Leser in der Lage, mit technischer
Unterstützung Zusammenhänge im Lexikon selbst herzustellen. Die
Auswahl und alphabetische Anordnung der Stichworte trägt dem Medium
Papier Rechnung und stellt ansonsten keine besonders effiziente Form
dar, Ordnung in einen Text zu bringen. Ein mit SGML-Tags
ausgestattetes Lexikon müßte natürlich in einem digitalen Medium
publiziert werden, weil nur so die Meta-Ebene der SGML-Tags
ergonomisch akzeptabel aus- und eingeblendet werden kann.
Nun ließen sich - so die Kernaussage dieses Beitrags - auch
wissenschaftliche Diskurse in den Foren der Netze mit einer
Markup-Language strukturieren. Die Funktion einer
Diskurs-Markup-Language (DML) bestünde darin, die Struktur
eines Textes hinsichtlich dessen Funktion für den Diskurs zu
beschreiben. Dazu müßte eine DML erlauben, insbesondere die
Verbindungen (Links) zwischen den Texten, Absätzen und unter
Umständen Einzelsätzen innerhalb eines Textabschnittes zu
kennzeichnen.
Die Entwicklung einer wissenschaftlichen DML würde für das
Wissenschaftssystem ein Politikum ersten Ranges darstellen. So
vermuten wir schon seit längerem, daß durch die Inanspruchnahme
effizienter Techniken auf Grundlage von Computernetzen ein
Industrialisierungs- und Demokratisierungdruck auf die
Wissenschaftsorganisationen entsteht (vgl. Rost/ Schack 1993:
351-363).
Nachfolgend möchte ich erste technische und organisatorische Überlegungen
zu einer DML unterbreiten und abschließend einige Probleme
ansprechen.
- Das Ziel der Entwicklung einer DML besteht darin, die Möglichkeit
zu unterstützen, daß Positionen in einem Diskurs kontrolliert
aufeinander Bezug nehmen können. Auf diese Weise läßt sich
die Evolution von Themen und Argumenten spezifisch beobachten, und
diese kön-
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nen ihrerseits einem Diskurs unterzogen werden. Technisch
wäre anzustreben, daß Computer Texte möglichst "intelligent"
bearbeiten können.
- Die vollgültige Anwendung einer DML speziell für den
wissenschaftlichen Diskurs setzt die vollständige
Digitalisierung des wissenschaftlichen Diskursmediums
voraus.
Der Wechsel vom Papier auf Computernetze ist nicht bloß eine
technische Angelegenheit, sondern schließt enorme soziale und
psychische Veränderungen ein. Denn noch sind die Organisationen des
Wissenschaftssystems zunftartig strukturiert. Das Selbstverständnis
des Personals dieser Organisationen orientiert sich dementsprechend
am genialischen, technophoben Kunsthandwerker, der in alter
Tradition auf das Medium Papier bezogene Produktionsmittel
vorzieht.
Eine DML wäre sowohl Produkt als auch Katalysator einer anstehenden
Industrialisierung und Demokratisierung (nicht nur) der Wissenschaft.
Sie würde die Arten der Anschlüsse an Publikationen standardisieren
(vgl. Stichweh 1994) und dadurch eine Diskurs-kontrollierte
Arbeitsteilung in der Generierung, Selektion, Bewertung und
Differenzierung von Themen ermöglichen. Damit würde im Bereich der
nichttrivialen Mitteilungsverarbeitungen eine soziale
Entwicklung nachgeholt werden, die in den Bereichen der
Objektverarbeitung längst vollzogen wurde (vgl. Rost 1996).
- Wenn Autoren eine DML benutzen, um ihre Texte spezifisch
ineinander zu verschränken, entsteht ein Netz von Texten. Dieses
ließe sich gemäß den in der Netztechnik gängigen Schichtenmodellen
(vgl. Tanenbaum 1990) als eine weitere Schicht begreifen. Denkbar
wäre sogar die Konzeption einer allgemeinen
Sozial-Markup-Language, die neben am Wissenschaftsdiskurs
orientierten Tags beispielsweise auch politische, kulturelle und
ökonomische Markup-Language-Sets umfaßt.
Eine DML sollte demnach technisch so konzipiert sein, daß die
darunter liegenden technischen Schichten eines Netzes, also etwa die
"Kabelstrang"-Ebene oder die Protokoll-Ebenen, ausgewechselt werden
können, ohne daß dadurch das von der DML-geknüpfte virtuelle Netz
zwischen Texten angetastet wird. Die DML müßte so entworfen
sein, daß sie auch Links auf nichtdigitalisierte Publikationen zu
setzen erlaubt. Bezogen auf Schichten-Modell und Diskurs ist das
Transport-Protokoll von Büchern und Zeitschriften von miserabler
Qualität, weil nicht nur der Text, sondern auch dessen körperliche
Form aufwendig transportiert werden muß.
Eine DML ließe sich zunächst an HTML orientiert
entwerfen (oder gar dort einflechten). So müßten, wie in
der HTML auch, Links und Sprungmarken gesetzt werden können, die
auf andere, im Netz per World-Wide-Web verfügbare Texte
verweisen. Nur wenig Phantasie bedarf die Vorstellung, wie
beispielsweise eine Diplomarbeit, in der nur noch die wirklich
kreativen Teile ausformuliert sind, primär aus Verweisen auf
Texte im Netz bestehen könnte (auf hierbei entstehende Probleme
komme ich zum Schluß zu sprechen).
Die Anwendung der DML muß nicht auf die Infrastruktur des WWW beschränkt
sein, sondern könnte sinnvoll gerade auch in Debatten eingesetzt werden,
die via E-mails und News-Artikeln geführt werden.
Der maßgebliche Unterschied zwischen der DML und der HTML bestünde darin,
daß bei einer DML auch die Art der Bezug-
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nahme durch einen Link ausgewiesen wäre. HTML sieht
außerdem keine Möglichkeit vor, auf einen einzelnen Satz
einer HTML-Seite Bezug zu nehmen, sofern dieser Satz nicht vom
Linkgeber von vornherein mit einer Referenz-Marke versehen wurde. In
einer DML müßte aber jeder einzelne Satz adressierbar
sein. Die Adreßvergabe für Texte (und daraus abgeleitete
Adressen für die Sätze im Text) könnten ähnlich
dem ISBN-Verfahren geregelt werden, wonach sich Autoren bzw.
Organisationen ein Set von Nummern reservieren.
HTML umfaßt einige Dutzend verschiedener Tags. Der Erfolg des
World-Wide-Web beruht vermutlich zu einem großen Teil darauf, daß die
Erstellung von mit HTML ausgezeichneten Texten leicht zu lernen ist und
mittlerweile auch von Textverarbeitungen als Textformat ausgegeben werden
kann. Das Set an DML-Tags sollte aus ergonomischen Gründen klein sein. Der
Erfolg einer Standardisierung bemißt sich primär an deren Akzeptanz, nicht
vornehmlich an der Stringenz oder dem erschöpfenden Umfang.
Ein Text ließe sich auch von einem Programm, man denke etwa an
Java-Applets, kapseln. Dies würde einem Autor oder einer Arbeitsgruppe die
Entwicklung einer eigenen, nichtstandardisierten, besser auf die
Produzenten oder das Produkt abgestimmten DML gestatten. Es müßte lediglich
sichergestellt werden, daß das kapselnde Programm nach außen den Standards
der DML genügt.
Eine DML ließe sich auch in Groupware-Systeme integrieren. Wichtige
Elemente einer DML sind in Groupware-Programmen ohnehin schon heute
eingebaut, etwa wenn die Teilnehmer an web4groups - einer
Groupware-Applikation auf WWW-Basis
(http://www.socoec.oeaw.at/w4g/Web4Groups.html) - soziale Rollen wählen
müssen und ihnen dementsprechend abgestuft umfassendere oder beschränktere
Zugriffe auf den gemeinsam erstellten Text gestattet werden. So darf
beispielsweise ein Chefredakteur jeden Text, ein Redakteur aber nur den von
ihm erstellten Text löschen, wohingegen ein externer Beobachter Texte nur
lesen darf. In Shared-Editing-Systemen (vgl. Malm 1994; oder:
http://info.cern.ch/hypertext/WWW/Daemon/WebGate.html; oder
http://www.demon.co.uk/jrac/cscwdir.html), in denen alle Textschreiber
zeitgleich an ihren PCs auf einen gemeinsamen Text zugreifen, ist die
Zeit, in der ein Zugriff auf die soeben geschriebenen Worte anderer
Autoren gesperrt ist, auf Null gesetzt. Hier wird
sozusagen ein technisches Protokoll mit maximaler Liberalität gefahren. Es
bleibt allein der sozialen Regelung der miteinander arbeitenden Personen
überlassen, zu verhindern, daß es zwischen den verschiedenen Autoren, die
zufällig an dem gleichen Wort oder Satz arbeiten, zu einer Endlosschleife
von Lösch- und Schreiboperationen kommt.
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Groupware beinhaltet bereits Regeln für organisierte Interaktionen.
Entweder handelt es sich wie bei Shared-Editing-Systemen um Regeln für
räumlich getrennte, aber zu gleicher Zeit arbeitende Mitglieder, oder, wie
z.B. bei Lotus Notes, um Regeln für Teilnehmer, die sich klar lokalisieren
lassen, aber zu unterschiedlichen Zeiten operieren. Im Unterschied dazu
wäre die DML eher auf dem Operationsniveau eines sozialen Systems
anzusiedeln, bei dem räumlich getrennt und zu unterschiedlichen Zeiten,
aber trotzdem in einem spezifizischen Sinn und aufeinander bezogen
kommuniziert wird.
Schließlich sollten die DML-Tags von einem DML-Browser in
Layout-Anweisungen übersetzt werden, um den Lesekomfort am
Bildschirm zu erhöhen und Ausdrucke auf Papier zu ermöglichen,
solange die Bildschirme von ergonomisch miserabler Qualität
sind.
- Die Standardisierung einer DML sollte dem bewährten Verfahren folgen,
wie es im Internet bei Standardisierungspapieren (RFC - "Request For
Comment") angewandt wird. Hiernach werden Verfahren in der Regel von
verschiedenen, voneinander unabhängigen Projektgruppen realisiert,
ausgetestet, modifiziert und dann im Anschluß, als Modell formuliert, bei
der ISOC (Internet Society) eingereicht. Deren Aufgabe beschränkt sich
darauf, das Modell in die Sammlung von RFCs einzusortieren und auf seine
Verfügbarkeit hinzuweisen.
Die Fachverbände der verschiedenen akademischen Disziplinen müßten die
Entwicklung einer solchen DML für ihren Bereich weltweit initiieren. Die
DML eines Faches muß dabei so konzipiert sein, daß sie Text- und
Diskursstrukturen zu beschreiben gestattet, ohne dabei bestimmte
wissenschaftstheoretische Programme und Methoden zu benachteiligen. Weder
Deduktionen, noch Induktionen oder Abduktionen dürfen strukturell durch
eine DML im Vorteil sein. Es ist damit zu rechnen, daß sich mehrere
Standards bilden, die selbst wiederum ausreichend Anlaß für Diskurse und
Reflexionen geben. Insofern unterläge eine DML ihrerseits der Beobachtung
des wissenschaftlichen Diskurses. Anders als EDI ("Electronic Document
Interchange", s. Deutsch 1994), ein Format zum Austausch von
standardisierten Dokumenten vornehmlich im Geschäftsbereich, müßte eine DML
weiterentwickelbar sein.
- Computer simulieren Semantik im hermeneutischen Sinne durch
rein syntaktische Operationen. Die Qualität der
Interpretationsleistungen von Experten oder Diskursen
hinsichtlich der Verarbeitung komplexer Texte können Computer nicht
erreichen (vgl. Dreyfus 1986), die Turing-Mauer ist nicht zu
durchbrechen. Wenn jedoch Autoren, Redaktionen oder andere Diskursteilnehmer ihre
Beiträge mit einer DML
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ausstatteten und dadurch den Syntax-Maschinen
gewissermaßen entgegenkämen, ließen sich womöglich Abstract- und
Review-Generatoren realisieren, die auch den kaum formalisierbaren
Ansprüchen in den Sozial- und Geisteswissenschaften genügen
könnten.
Persönliche "intelligent agents", die als Stellvertreter eines
Menschen im Netz fungieren (vgl. Römer et al. 1996), könnten
zusätzlich bei der individuellen Auswahl von Nachrichten,
Diskussionsbeiträgen und Publikationen helfen. Eine DML wäre auch
schon heute nützlich, sofern WWW-Suchmaschinen wie Altavista, Lycos,
Webcrawler DML-Tags auswerten könnten.
Die Autoren müßten ihre Texte in eigener Regie indizieren (wie bisher
auch, nur ungleich höherauflösend) und weitgehend auch selbst
einzuschätzen und bewerten. Dies ist dann nicht problematisch, wenn
die eingestreuten DML-Tags einem Diskurs unterworfen werden, der bei
deren Nicht-Angemessenheit ohnehin entstünde. Die zutreffende
Auszeichnung eines Textes mit einer DML ließe sich problemlos dem
Katalog der Methodenansprüche eines akademischen Faches
hinzufügen. Qualitätsmerkmal wäre, möglichst zugriffssicher und dem
Gesamttextkorpus eines akademischen Faches entsprechend zu
indizieren. Andererseits werden Autoren versuchen, die eigenen
Beiträge an den Unmengen von anderen Texten vorbeizuschmuggeln.
Hierbei wird es, wie sonst auch, zu einem gesellschaftlichen
Ausgleich der Fintenrate kommen.
- In einem neuen Medium werden immer auch neue Formen realisiert. Alte
Formen bleiben daneben jedoch meistens sichtbar. So läßt sich
beispielsweise den Eisenbahnwaggons mit Abteilen ansehen, daß sie auf
Kutschen-Chassis zurückgehen. In diesem Sinne wird man eine gewisse Zeit
lang elektronischen Publikationen (vgl. Böhle 1996) noch die Orientierung
an Zeitschriftenaufsätzen oder Buchpublikationen ansehen
können.
Für die Zeit des Übergangs von papierener zu elektronischer
Publikation muß eine DML deshalb so ausgelegt sein, daß sie die
Kennzeichnung sowohl interner Bezüge von Satz zu Satz innerhalb eines
Textes als auch externer Bezüge von Texten, Absätzen und
einzelnen Sätzen verschiedener Autoren erlaubt.
Bislang muß ein Autor noch Sätze aus Texten anderer Autoren in den
eigenen Text importieren, um diese dann als eigene Sätze
behandeln zu können. Das entspricht dem Vorgehen einfacher
Gemeinschaften, die einen Fremden zunächst in ihr
Verwandtschaftssystem, etwa als Schwester, aufnehmen müssen, um einen
definierten Modus des Umgangs mit ihm zu finden. Mit der
Zugriffsmöglichkeit auf weltumspannende Computernetze und einer
Welt-Enzyklopädie aufeinander Bezug nehmender Texte dreht sich dieses
Verhältnis jedoch um: Nun exportieren Autoren ihre Kommentare in den
bestehenden Gesamttextkorpus durch Herstellung von Links.
-- Ende S. 420 --
-- Anfang Passage aus dem Original-Manuskript, die in dem gedruckten Artikel fehlt --
Um die Tags einer DML festzulegen, kann man sich an den von Linguisten
entwickelten Wortklassen (vgl. Schmidt 1976) orientieren.
Präsuppositionen bezeichnen die Voraussetzungen, die
einem Satz oder einer Aussage zugrunde liegen; sie können zwar nicht
unmittelbar ausgesprochen, aber zumeist erschlossen werden.
In diesem Sinne würde ein Tag wie etwa
<Soziologie> den Kontext der Diskursbeiträge
angeben und syntaktisch die Menge der nachfolgenden Tags definieren.
Dies entspricht in der HTML dem Tag
<HTML>, das am
Beginn jedes HTML-Textes steht. Insofern verfügte jedes
akademische Fach über ein spezielles Tag, das den Kontext eines
Textes festlegte. Technisch ließe sich dies so umsetzen,
daß zu Anfang eines jeden soziologischen Textes etwa ein
<DML-Sociology> steht, zusammen mit einem Tag für
die Sprache, in die der Text geschrieben wurde.
Illokutionen sind Sprechakte im Hinblick auf ihre
kommunikative Funktion. Illokutionen haben eine wichtige soziale
Funktion, weil sie den Anschluß weiterer Kommunikation
motivieren.
Eine DML weist die Qualität eines Links hinsichtlich dessen Funktion für
den Diskurs aus. Zu dieser Gruppe kommunikativer Bezugnahmen zählen zum
Beispiel die folgenden Modi:
Zustimmung, Bestätigung / Ablehnung, Ermutigung / Entmutigung, Zweifel,
Empfehlung, Hinweis / Befehl, Versprechen / Versagung, Geständnis /
Zweifel, Frage / Antwort.
Problematisch hierbei ist die Angabe der Richtung der Bezugnahme: In
klassischen wissenschaftlichen Publikationen, für die gilt, daß die Sätze
anderer Autoren importiert werden müssen, werden diese aus der Sicht des
eigenen Beitrags eingeordnet und bewertet. In elektronisch miteinander
verknüpften Texten macht es umgekehrt mehr Sinn, den eigenen Beitrag dort
einzuordnen und die eigenen Sätze in Bezug zum Gesamt-Textkorpus zu
kennzeichnen.
Propositionen verstehen Linguisten als
"Transformationen 'möglicher Welten' in Wahrheits-Werte" (Schmidt
1973: 89) oder 'als das, was in Akten der Feststellung, Behauptung
etc festgestellt oder behauptet etc. wird." (Schmidt 1973: 90).
Propositionen kommen nicht allein vor, sondern müssen in
illokutionären Akten geäußert werden.
Sätze stehen nicht nur im Verhältnis zu anderen Sätzen, sondern bezeichnen
Sachverhalte in der Welt. Diesen Sachverhalten wird durch die Sprache eine
bestimmte Form gegeben. So zwingt zum Beispiel ein Satz wie "Der Wind weht
und der Fluß fließt." (vgl. Elias 1970) allein sprachlich die Vorstellung
auf, daß hinter dem Prozeß des Wehens und Fließens noch Ursachen stehen
müssen. Als hier nicht weiter systematisierte Beispiele für Propositionen
wären aufzuführen:
Feststellung, Behauptung, Erwähnung, Beobachtung, Zahl und Maßeinheit,
Bezeichnung, Mitteilung, Kommentar, Erklärung, Korrektur, Vermutung,
Verpflichtung, Begründung, Folgerung, Ableitung, Anekdote, Induktion,
Deduktion, Abduktion, Fazit, Abstract.
Es liegt nahe, diese linguistischen Klassen an die von Habermas
entwickelten Kategorien des teleologischen, normenregulierten und
dramaturgischen kommunikativen Handelns anzuschließen (Habermas
1981).
-- Ende Passage aus dem Original-Manuskript, die in dem gedruckten Artikel fehlt --
Es böte sich demnach an, ein DML-Tag dreistellig zu
konzipieren: Eine Komponente kennzeichnete den Bezug der Aussage auf
andere Aussagen, eine zweite den Bezug der Aussage zu den
Objekt-Sachverhalten in der Welt und die dritte Komponente die
Aussage im Hinblick auf die Bewertung durch den Autor.
Abschließend möchte ich zumindest noch einige Probleme
ansprechen, die die Verwendung einer DML inhärent
aufwürfe.
Die Digitalisierung wissenschaftlicher Texte und die Industrialisierung und
Demokratisierung wissenschaftlicher Kommunikation insgesamt greift massiv
auf andere gesellschaftliche Bereiche durch, beispielsweise auf Regelungen
des Urheberrechts oder der angemessenen Entlohnung von
Informationsarbeitern (vgl. Barlow 1995). In anderen Zusammenhängen
erarbeitete Modelle zur allgemeinen Grundversorgung (s. Vobruba 1990)
erhielten eine neue Plausibilität.
Das Hauptproblem einer DML-Realisierung bestünde darin, ein ausgewogenes
Maß der Stabilität von Links herzustellen: DML-Links müßten einerseits
einen sehr viel höheren Grad der Verbindlichkeit untereinander aufweisen
als derzeit HTML-Links im WWW. Zum anderen müßten die statischen oder nur
zufälligen Bezüge in und zwischen Sätzen auf Papier dynamisiert werden.
DML-Texte müßten archiviert werden, um sie nachfolgend als kommentierbare
Verankerungspunkte für Links verwenden zu können. Server für solche Archive
könnten im staatlichen Auftrag von Wissenschaftsorganisationen oder auch
marktreguliert betrieben werden, bespielsweise von Verlagen, die sich auf
bestimmte akademische Textklassen spezialisiert haben. Die Archive müßten
die Auflage erhalten, in einem angebbaren Zeitrahmen bestehen zu bleiben.
Die jeweiligen Autoren und Institute könnten ihre diesbezüglichen Beiträge
entweder auf eigenen Platten bereit halten oder in ein dafür vorgesehenes
Archiv einer Wissenschaftsorganisation kopieren.
Eine Frage ist, ob archivierte Texte verbessert oder auch von den
Autoren des archivierten Textes lediglich kommentiert werden dürften.
Letzteres hätte den Vorteil, daß Fehler als solche dokumentiert
blieben, was einen wichtigen Lerneffekt haben könnte. Bei
sinnverändernden Ergänzungen, Textupdates oder auch Textlöschungen
müßten die Autoren als Linkgeber den Linknehmern Nachricht
geben können. Dazu ist es technisch notwendig, daß sich die Links zu
den Linkneh-
-- Ende S. 421 --
mern zurückverfolgen lassen. Was aber würde es bedeuten,
wenn Publikationen sich nicht wie bisher über den Buchmarkt an ein
anonymes Publikum richteten?
Ferner stellt sich das Problem der Rechte an den Links. Gehen diese
automatisch an die virtuelle Netzgesellschaft der Wissenschaftler über,
sobald ein Text als Link-Anker in einem offiziellen Archiv landet? Oder
bestehen Individual-Rechte, wonach ein Link nur gesetzt werden darf, wenn
sich Linkgeber und Linknehmer explizit einig sind und der Linkgeber die
Bezugnahme nicht verweigert?
Bislang herrscht im WWW die Ansicht vor, daß das Legen eines
Links nicht verweigert werden darf, es sei denn, die Aussage
über die referenzierte Seite trifft nicht zu.
Womöglich wären regelmäßige Update-Termine sinnvoll, so daß bestimmte
Textversionen in den Archiven auf jeden Fall bis zum nächsten
Update-Termin gültig blieben. Dies entspräche einer Art Taktung
des Wissenschaftssystems: Ein Update-Interrupt stellte für einen
absehbaren Zeitraum einen neuen, verläßlichen Zustand des
Wissenschaftssystems her. Die Häufigkeit der Updates bliebe
Angelegenheit der Scientific Society. Eine Treuhänder-Organisation,
die auf den bereits bestehenden Verwertungsgesellschaften aufbauen
würde, könnte die Update-Taktungen und das Versenden von
Steuernachrichten übernehmen, die Verträge zwischen Linkgebern und
Linknehmern verwalten und die Abgaben auf die verschiedenen
Speicher-, Transport- und Darstellungsformen eintreiben, um sie als
Honorare an die Autoren weiterzureichen.
Allein an diesem sehr klein zugeschnittenen Beispiel einer DML lassen sich
die sozialen Folgen der Netze abschätzen, sobald deren Möglichkeiten nicht
bloß nach traditionellen Maßstäben genutzt werden. Mit den Netzen stehen
die alten Arrangements zwischen Sendern und Empfängern zur Disposition. Die
Radikalität der sozialen Veränderung dürfte derjenigen vergleichbar sein,
die mit dem Buchdruck und der Dampfmaschine einherging.
- Barlow, J. P., 1995: Wein ohne Flaschen - Globale Computernetze,
Ideen-Ökonomie und Urheberrecht; in: Bollmann, St., 1995: Kursbuch
Neue Medien: 79-106
- Böhle, K., 1996: Elektronisches Publizieren; in: Buder,
M./ Rehfeld, W./ Seeger, T./ Strauch, D. (Hrsg.), 1996: Grundlagen
der praktischen Information und Dokumentation, Band 1, München u.a.:
Saur: 397-424
- Bollmann, S. (Hrsg.), 1995: Kursbuch Neue Medien - Trends in
Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, 2. durchgesehene
Auflage 1996: Bollmann Verlag
-- Ende S. 422 --
- Deutsch, Markus, 1995: Unternehmenserfolg mit EDI; Strategie und
Einführung des elektronmischen Datenaustausches, Wiesbaden:
Vieweg
- Dreyfus, H. L./ Dreyfus, S. E., 1986: Künstliche Intelligenz -
Von den Grenzen der Denkmaschine und dem Wert der Intuition, 1.
Aufl., 1987, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
- Elias, N., 1970: Was ist Soziologie?, 4. Aufl., 1981 München:
Juventa
- Habermas, Jürgen, 1981: Theorie des kommunikativen Handelns,
Bd. 1 und 2, 3. Aufl., 1985, Frankfurt/ M.: Suhrkamp
- Malm, P. S., 1994: The unofficial Yellow Pages of CSCW - Groupware,
Prototypes und Projects - Classification of Cooperative systems from a
Technological Perspective. Groupware in Local Goverment Administration.
(Thesis for the degree of cand. scient in Informatics, in preparation) -
University of Tromsö / ftp-Server: gorgon.tft.tele.no, Verzeichnis:
/pub/groupware/cscw_yp.*, eMail: paal.malm@tft.tele.no
- Römer, Martin/ Quendt, Bernd/ Stenz, Peter; 1996: Autopiloten fürs
Netz, Intelligente Agenten - Rettung aus der Datenflut. In: ct 1996/
03: 156-162
- Rost, Martin/ Schack, Michael, 1993: DFÜ - ein Handbuch. Recherchen
in weltweiten Netzen, Hannover: Verlag Heinz Heise
- Rost, Martin (Hrsg.), 1996: Die Netzrevolution - Auf dem Weg in die
Weltgesellschaft, Frankfurt/ M.: Eichborn-Verlag
- Schmidt, Siegfried J., 1976: Texttheorie - Probleme einer Linguistik
der sprachlichen Kommunikation, 2. Aufl., München, Wilhelm Fink
Verlag: UTB
- Stichweh, R., 1994: Wissenschaft, Universität, Profession -
Soziologische Analysen, Frankfurt/ M.: Suhrkamp
- Tanenbaum, A. S., 1990: Computer Netzwerke: Wolfram's Fachverlag
- Vobruba, G., 1990: Strukturwandel der Sozialpolitik -
Lohnarbeitszentrierte Sozialpolitik und soziale Grundsicherung,
Frankfurt/ Main: Suhrkamp
-- Ende S. 423 --
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