Martin Rost
Publikationen
Dieser Text ist veröffentlich in:
- Heibach, Christiane/ Bollmann, Stefan (Hrsg.), 1996: Kursbuch Internet - Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur: Bollmann-Verlag
- http://www.maroki.de/pub/sociology/mr_dml.html
- E-Mail: martin-rost_at_web_de
("_at_" bitte durch "@" ersetzen, "_de" bitte durch ".de")
1996.10.03., Version 1.2

Vorschläge zur Entwicklung einer wissenschaftlichen Diskurs-Markup-Language

Martin Rost

Die Nutzung von Netzdiensten (E-Mail, Diskussionsforen, World-Wide-Web, Suchmaschinen, WAIS, FTP-Archive, per Telnet erreichbare Datenbanken usw.) ist für viele Informationsverarbeiter alltäglich geworden. Recherchen und gesellschaftsweite Diskurse wurden enorm beschleunigt oder überhaupt erst zugänglich gemacht. Aber der Eindruck von einer neuen Qualität in der wissenschaftlichen Kommunikation kommt nicht auf. Dies liegt u.a. daran, daß die Möglichkeiten der digitalen Medien bislang überwiegend gemäß den Standards eines auf Papier basierenden Publikationssystems genutzt werden...

Diskussion im Netz

Diskussionsbeiträge in wissenschaftlichen Zeitschriften und in Netzdiskussionsforen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Ein besonders wichtiger Unterschied ist die Orientierung am Diskurs: Während der Autor eines Zeitschriftenbeitrags starke Gegenpositionen vorwegnimmt, um möglichst keinen Diskurs auf sich zu ziehen, der die Qualität seines Beitrags oder, schlimmer noch, die Kompetenz des Autors in Zweifel ziehen könnte, zeichnen sich gute Beiträge in den Diskussionsforen der Netze dadurch aus, daß sie ihre Kontrahenten pflegen, indem sie ihnen aussichtsreiche Gegenpositionen überlassen oder gut konturierte Lücken zu füllen gestatten.

Ist im Netz ein Kontrahent gefunden (sofern man unter einem anderen Namen auftritt, was im Netz technisch problemlos realisierbar ist, kann man die Gegenposition gleich mit übernehmen), entsteht ein ausreichend differenziertes Muster, das den Diskussionssog für andere Beobachter der Debatte verstärkt. Es stoßen verläßlich weitere Teilnehmer hinzu, die Kommentare ihrerseits kommentieren, Analysen und Synthesen anbieten und versuchen, ein Thema in bestehende Taxinomien und Theorien einzuordnen. Nebenbei bemerkt: Wer unter diesen Bedingungen über die Unmengen an Datenmüll im Netz klagt, filtert falsch,
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nämlich nur im massenmedial gewohnten Modus des Konsumenten. Statt dessen gilt es, das vom Computernetz aufgespannte soziale Netz der Diskursteilnehmer mit bestimmten Themen zu reizen, wenn es sich mit diesen Themen beschäftigen soll. Man darf dabei mit einer hohen Motivation der Teilnehmer rechnen, denn diese haben recht hohe Opportunitätskosten (Hardware, Software, Kompetenz) in Kauf genommen, um an Debatten in diesem Medium teilnehmen zu können.

Technisch nimmt der Teilnehmer eines Diskussionsforums Bezug auf den Beitrag eines anderen Teilnehmers, indem er den kommentierwürdigen Teil im Text-Editor stehenläßt und ihn am Anfang einer jeden Zeile typischerweise durch ein ">" als Zitat kennzeichnet. Die dritte Generation von Kommentaren beispielsweise ließe sich auf diese Weise anhand von ">>>" zu Anfang einer Zeile erkennen (in einigen Newsreadern oder im WWW-Browser Netscape werden die Kommentar-Verkettungen der Beiträge graphisch dargestellt). Es bleibt dabei dem Kommentator überlassen, ob er die Namen und E-mail-Adressen seiner Vorgänger-Kommentatoren im Text selbst aufführt oder diese löscht und allein deren Aussagen stehenläßt.

Auf diese Weise entsteht in länger anhaltenden Netzdebatten ein Gesamttext, bei dem die Werkshoheit nicht mehr von einem einzelnen Autor, sondern nur von der Gruppe der Debattenteilnehmer insgesamt beansprucht werden kann. Der Text ist zu einem Kollektivprodukt geworden. Der Diskurs hat sich gewissermaßen Teilnehmer gesucht, um diese als "Wirtstiere" zu benutzen. In den Religions- und Philosophie-Diskussionsforen des UseNet finden zum Beispiel regelmäßig Debatten über Atheismus statt, in denen jedes Mal wieder sämtliche Positionen und Argumente präsentiert werden. Solche Figuren werden gern von Netz- bzw. Diskurs-Neulingen weitergereicht. Sie sind gute Beispiele für das, was Dawkins als "Meme" bezeichnet hat.

An den Texten der Netzdiskussionen ist ferner ein linguistischer Aspekt bemerkenswert. So werden darin Texteinstreuungen benutzt, die vom Duden bislang nicht erfaßt wurden. Eine ziemlich bekannte Texteinstreuung sind die um 90-Grad nach rechts gedrehten Smilies (etwa :-) oder |-( ), deren Funktion darin besteht, einen Satz bzw. Absatz als ironisch, als witzig, als nicht-ernstgemeint oder auch als Unterstreichung des Verärgertseins zu kennzeichnen. Smilies kompensieren den Ausfall des relativierenden Mienenspiels, etwa eines Augenzwinkerns, das eine Aussage in Interaktionen face-to-face begleiten würde. Smilies werden deshalb auch als Emoticons bezeichnet. Ein Autor, der Emoticons verwendet, versteht seinen Beitrag in gewisser Weise als ein Gespräch. In wissenschaftlichen Debatten werden Emoticons dagegen kaum benutzt, vermutlich weil die Autoren hier ihre Beiträge stärker in
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die Nähe von Zeitschriften-Artikeln gerückt wissen wollen. Da es Texteinstreuungen gestatten, ansonsten aufwendig zu formulierende Passagen, die die Interpretation steuern sollen, abzukürzen, mögen zunehmend häufiger Autoren schon aus Gründen der Effizienz darauf nicht verzichten. Typisch sind Texteinstreuungen wie folgende:

<Sarkasmus on> 
Gezielt provokant formulierte Passage 
<Sarkasmus off>

Offensichtlich vertraut der Autor in diesem Fall nicht darauf, daß sich die von ihm intendierte Interpretation eines Satzes von selbst versteht. Er hebt eine Interpretation heraus, die ansonsten gleichberechtigt neben anderen Interpretationsmöglichkeiten stünde. Texteinstreuungen, die auf diese Weise eine Passage kennzeichnen, werden "Markups" oder "Tags" genannt. Tags entsprechen im Grunde Kurzformen von Regie-Anweisungen in einem Drehbuch. Auch wenn diese Tags selbst wiederum einer Interpretations-Unschärfe unterliegen (was bedeutet Sarkasmus?), so ermöglichen sie doch für Autor und Leser eine insgesamt größere Kontrolle über das Set möglicher Interpretationen einer Textpassage. Linguisten würden ein Tag dieser Art als Perlokution bezeichnen.

Tags werden zum Beispiel in den HTML-Texten (Hypertext Markup Language) des World-Wide-Web verwendet. Die HTML-Tags dienen hier allerdings nicht als Interpretationsanweisungen an die Leser, sondern zur Beschreibung der Textstruktur, die von Programmen zum Lesen von HTML-Texten (WWW-Browser, etwa Netscape oder Mosaic) ausgewertet werden. Bislang wird HTML jedoch vornehmlich als Text-Layout-Sprache benutzt. Ein HTML-Tag wie beispielsweise <B>Wort</B> sorgt dafür, daß das Wort "Wort" auf dem Bildschirm fett dargestellt wird. Ferner dienen HTML-Tags dazu, Verbindungen ("Links" oder "Hypermedia-Links" genannt) über das Internet zu anderen HTML-Texten zu knüpfen, die sich irgendwo im Netz auf anderen Rechnern befinden.

HTML wurde ausgehend von der SGML (Standard Generalized Markup Language) entwickelt und stellt eine Art Untermenge der letzteren dar. SGML wird zum Beispiel von Lexika-Redaktionen benutzt, um aus einem einzigen, digitalisiert vorliegenden Ausgangstext Publikationen für unterschiedliche Medien (z.B. Papier, Offline-Datenbanken auf CD-Rom oder Online-Datenbanken im Netz) und für verschiedene Lexikaformen (Personen-, Geschichts-, Sozial-, Technik-Lexikon) herzustellen. Firmen wie Volkswagen oder Lufthansa benutzen für ihre internen Publikationen ebenfalls ein SGML-Format, weil es dadurch möglich wird, je nach Anforderung - etwa der Techniker an den CMC-Maschinen, der Konstrukteure an den CAD-Systemen und der Kaufleute mit
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ihren Tabellenkalkulationen - aus einem Gesamttext-Korpus einzelne Dokumentationen zu einem Produkt mit spezifischen Perspektiven zusammenzustellen und graphisch aufzubereiten.

Der Strukturverlust, den ein Leser eines auf Papier ausgedruckten Lexikons hinnehmen muß, ist, informationsökologisch gesehen, katastrophal, weil der Informationsgehalt eines Lexikons so nur zu einem Bruchteil ausgeschöpft werden kann. Blieben die SGML-Tags, mit denen die Lexikon-Redaktionen ohnehin arbeiten, in den Publikationen erhalten, wäre ein Leser in der Lage, mit technischer Unterstützung Zusammenhänge im Lexikon selbst herzustellen. Die Auswahl und alphabetische Anordnung der Stichworte trägt dem Medium Papier Rechnung und stellt ansonsten keine besonders effiziente Form dar, Ordnung in einen Text zu bringen. Ein mit SGML-Tags ausgestattetes Lexikon müßte natürlich in einem digitalen Medium publiziert werden, weil nur so die Meta-Ebene der SGML-Tags ergonomisch akzeptabel aus- und eingeblendet werden kann.

Nun ließen sich - so die Kernaussage dieses Beitrags - auch wissenschaftliche Diskurse in den Foren der Netze mit einer Markup-Language strukturieren. Die Funktion einer Diskurs-Markup-Language (DML) bestünde darin, die Struktur eines Textes hinsichtlich dessen Funktion für den Diskurs zu beschreiben. Dazu müßte eine DML erlauben, insbesondere die Verbindungen (Links) zwischen den Texten, Absätzen und unter Umständen Einzelsätzen innerhalb eines Textabschnittes zu kennzeichnen.

Vorschlag für eine Diskurs-Markup-Language

Die Entwicklung einer wissenschaftlichen DML würde für das Wissenschaftssystem ein Politikum ersten Ranges darstellen. So vermuten wir schon seit längerem, daß durch die Inanspruchnahme effizienter Techniken auf Grundlage von Computernetzen ein Industrialisierungs- und Demokratisierungdruck auf die Wissenschaftsorganisationen entsteht (vgl. Rost/ Schack 1993: 351-363).

Nachfolgend möchte ich erste technische und organisatorische Überlegungen zu einer DML unterbreiten und abschließend einige Probleme ansprechen.

  1. Das Ziel der Entwicklung einer DML besteht darin, die Möglichkeit zu unterstützen, daß Positionen in einem Diskurs kontrolliert aufeinander Bezug nehmen können. Auf diese Weise läßt sich die Evolution von Themen und Argumenten spezifisch beobachten, und diese kön-
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    nen ihrerseits einem Diskurs unterzogen werden. Technisch wäre anzustreben, daß Computer Texte möglichst "intelligent" bearbeiten können.

  2. Die vollgültige Anwendung einer DML speziell für den wissenschaftlichen Diskurs setzt die vollständige Digitalisierung des wissenschaftlichen Diskursmediums voraus.

    Der Wechsel vom Papier auf Computernetze ist nicht bloß eine technische Angelegenheit, sondern schließt enorme soziale und psychische Veränderungen ein. Denn noch sind die Organisationen des Wissenschaftssystems zunftartig strukturiert. Das Selbstverständnis des Personals dieser Organisationen orientiert sich dementsprechend am genialischen, technophoben Kunsthandwerker, der in alter Tradition auf das Medium Papier bezogene Produktionsmittel vorzieht.

    Eine DML wäre sowohl Produkt als auch Katalysator einer anstehenden Industrialisierung und Demokratisierung (nicht nur) der Wissenschaft. Sie würde die Arten der Anschlüsse an Publikationen standardisieren (vgl. Stichweh 1994) und dadurch eine Diskurs-kontrollierte Arbeitsteilung in der Generierung, Selektion, Bewertung und Differenzierung von Themen ermöglichen. Damit würde im Bereich der nichttrivialen Mitteilungsverarbeitungen eine soziale Entwicklung nachgeholt werden, die in den Bereichen der Objektverarbeitung längst vollzogen wurde (vgl. Rost 1996).

  3. Wenn Autoren eine DML benutzen, um ihre Texte spezifisch ineinander zu verschränken, entsteht ein Netz von Texten. Dieses ließe sich gemäß den in der Netztechnik gängigen Schichtenmodellen (vgl. Tanenbaum 1990) als eine weitere Schicht begreifen. Denkbar wäre sogar die Konzeption einer allgemeinen Sozial-Markup-Language, die neben am Wissenschaftsdiskurs orientierten Tags beispielsweise auch politische, kulturelle und ökonomische Markup-Language-Sets umfaßt.

    Eine DML sollte demnach technisch so konzipiert sein, daß die darunter liegenden technischen Schichten eines Netzes, also etwa die "Kabelstrang"-Ebene oder die Protokoll-Ebenen, ausgewechselt werden können, ohne daß dadurch das von der DML-geknüpfte virtuelle Netz zwischen Texten angetastet wird. Die DML müßte so entworfen sein, daß sie auch Links auf nichtdigitalisierte Publikationen zu setzen erlaubt. Bezogen auf Schichten-Modell und Diskurs ist das Transport-Protokoll von Büchern und Zeitschriften von miserabler Qualität, weil nicht nur der Text, sondern auch dessen körperliche Form aufwendig transportiert werden muß.

    Eine DML ließe sich zunächst an HTML orientiert entwerfen (oder gar dort einflechten). So müßten, wie in der HTML auch, Links und Sprungmarken gesetzt werden können, die auf andere, im Netz per World-Wide-Web verfügbare Texte verweisen. Nur wenig Phantasie bedarf die Vorstellung, wie beispielsweise eine Diplomarbeit, in der nur noch die wirklich kreativen Teile ausformuliert sind, primär aus Verweisen auf Texte im Netz bestehen könnte (auf hierbei entstehende Probleme komme ich zum Schluß zu sprechen).

    Die Anwendung der DML muß nicht auf die Infrastruktur des WWW beschränkt sein, sondern könnte sinnvoll gerade auch in Debatten eingesetzt werden, die via E-mails und News-Artikeln geführt werden.

    Der maßgebliche Unterschied zwischen der DML und der HTML bestünde darin, daß bei einer DML auch die Art der Bezug-
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    nahme durch einen Link ausgewiesen wäre. HTML sieht außerdem keine Möglichkeit vor, auf einen einzelnen Satz einer HTML-Seite Bezug zu nehmen, sofern dieser Satz nicht vom Linkgeber von vornherein mit einer Referenz-Marke versehen wurde. In einer DML müßte aber jeder einzelne Satz adressierbar sein. Die Adreßvergabe für Texte (und daraus abgeleitete Adressen für die Sätze im Text) könnten ähnlich dem ISBN-Verfahren geregelt werden, wonach sich Autoren bzw. Organisationen ein Set von Nummern reservieren.

    HTML umfaßt einige Dutzend verschiedener Tags. Der Erfolg des World-Wide-Web beruht vermutlich zu einem großen Teil darauf, daß die Erstellung von mit HTML ausgezeichneten Texten leicht zu lernen ist und mittlerweile auch von Textverarbeitungen als Textformat ausgegeben werden kann. Das Set an DML-Tags sollte aus ergonomischen Gründen klein sein. Der Erfolg einer Standardisierung bemißt sich primär an deren Akzeptanz, nicht vornehmlich an der Stringenz oder dem erschöpfenden Umfang.

    Ein Text ließe sich auch von einem Programm, man denke etwa an Java-Applets, kapseln. Dies würde einem Autor oder einer Arbeitsgruppe die Entwicklung einer eigenen, nichtstandardisierten, besser auf die Produzenten oder das Produkt abgestimmten DML gestatten. Es müßte lediglich sichergestellt werden, daß das kapselnde Programm nach außen den Standards der DML genügt.

    Eine DML ließe sich auch in Groupware-Systeme integrieren. Wichtige Elemente einer DML sind in Groupware-Programmen ohnehin schon heute eingebaut, etwa wenn die Teilnehmer an web4groups - einer Groupware-Applikation auf WWW-Basis (http://www.socoec.oeaw.at/w4g/Web4Groups.html) - soziale Rollen wählen müssen und ihnen dementsprechend abgestuft umfassendere oder beschränktere Zugriffe auf den gemeinsam erstellten Text gestattet werden. So darf beispielsweise ein Chefredakteur jeden Text, ein Redakteur aber nur den von ihm erstellten Text löschen, wohingegen ein externer Beobachter Texte nur lesen darf. In Shared-Editing-Systemen (vgl. Malm 1994; oder: http://info.cern.ch/hypertext/WWW/Daemon/WebGate.html; oder http://www.demon.co.uk/jrac/cscwdir.html), in denen alle Textschreiber zeitgleich an ihren PCs auf einen gemeinsamen Text zugreifen, ist die Zeit, in der ein Zugriff auf die soeben geschriebenen Worte anderer Autoren gesperrt ist, auf Null gesetzt. Hier wird sozusagen ein technisches Protokoll mit maximaler Liberalität gefahren. Es bleibt allein der sozialen Regelung der miteinander arbeitenden Personen überlassen, zu verhindern, daß es zwischen den verschiedenen Autoren, die zufällig an dem gleichen Wort oder Satz arbeiten, zu einer Endlosschleife von Lösch- und Schreiboperationen kommt.
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    Groupware beinhaltet bereits Regeln für organisierte Interaktionen. Entweder handelt es sich wie bei Shared-Editing-Systemen um Regeln für räumlich getrennte, aber zu gleicher Zeit arbeitende Mitglieder, oder, wie z.B. bei Lotus Notes, um Regeln für Teilnehmer, die sich klar lokalisieren lassen, aber zu unterschiedlichen Zeiten operieren. Im Unterschied dazu wäre die DML eher auf dem Operationsniveau eines sozialen Systems anzusiedeln, bei dem räumlich getrennt und zu unterschiedlichen Zeiten, aber trotzdem in einem spezifizischen Sinn und aufeinander bezogen kommuniziert wird.

    Schließlich sollten die DML-Tags von einem DML-Browser in Layout-Anweisungen übersetzt werden, um den Lesekomfort am Bildschirm zu erhöhen und Ausdrucke auf Papier zu ermöglichen, solange die Bildschirme von ergonomisch miserabler Qualität sind.

  4. Die Standardisierung einer DML sollte dem bewährten Verfahren folgen, wie es im Internet bei Standardisierungspapieren (RFC - "Request For Comment") angewandt wird. Hiernach werden Verfahren in der Regel von verschiedenen, voneinander unabhängigen Projektgruppen realisiert, ausgetestet, modifiziert und dann im Anschluß, als Modell formuliert, bei der ISOC (Internet Society) eingereicht. Deren Aufgabe beschränkt sich darauf, das Modell in die Sammlung von RFCs einzusortieren und auf seine Verfügbarkeit hinzuweisen.

    Die Fachverbände der verschiedenen akademischen Disziplinen müßten die Entwicklung einer solchen DML für ihren Bereich weltweit initiieren. Die DML eines Faches muß dabei so konzipiert sein, daß sie Text- und Diskursstrukturen zu beschreiben gestattet, ohne dabei bestimmte wissenschaftstheoretische Programme und Methoden zu benachteiligen. Weder Deduktionen, noch Induktionen oder Abduktionen dürfen strukturell durch eine DML im Vorteil sein. Es ist damit zu rechnen, daß sich mehrere Standards bilden, die selbst wiederum ausreichend Anlaß für Diskurse und Reflexionen geben. Insofern unterläge eine DML ihrerseits der Beobachtung des wissenschaftlichen Diskurses. Anders als EDI ("Electronic Document Interchange", s. Deutsch 1994), ein Format zum Austausch von standardisierten Dokumenten vornehmlich im Geschäftsbereich, müßte eine DML weiterentwickelbar sein.

  5. Computer simulieren Semantik im hermeneutischen Sinne durch rein syntaktische Operationen. Die Qualität der Interpretationsleistungen von Experten oder Diskursen hinsichtlich der Verarbeitung komplexer Texte können Computer nicht erreichen (vgl. Dreyfus 1986), die Turing-Mauer ist nicht zu durchbrechen. Wenn jedoch Autoren, Redaktionen oder andere Diskursteilnehmer ihre Beiträge mit einer DML
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    ausstatteten und dadurch den Syntax-Maschinen gewissermaßen entgegenkämen, ließen sich womöglich Abstract- und Review-Generatoren realisieren, die auch den kaum formalisierbaren Ansprüchen in den Sozial- und Geisteswissenschaften genügen könnten.

    Persönliche "intelligent agents", die als Stellvertreter eines Menschen im Netz fungieren (vgl. Römer et al. 1996), könnten zusätzlich bei der individuellen Auswahl von Nachrichten, Diskussionsbeiträgen und Publikationen helfen. Eine DML wäre auch schon heute nützlich, sofern WWW-Suchmaschinen wie Altavista, Lycos, Webcrawler DML-Tags auswerten könnten.

    Die Autoren müßten ihre Texte in eigener Regie indizieren (wie bisher auch, nur ungleich höherauflösend) und weitgehend auch selbst einzuschätzen und bewerten. Dies ist dann nicht problematisch, wenn die eingestreuten DML-Tags einem Diskurs unterworfen werden, der bei deren Nicht-Angemessenheit ohnehin entstünde. Die zutreffende Auszeichnung eines Textes mit einer DML ließe sich problemlos dem Katalog der Methodenansprüche eines akademischen Faches hinzufügen. Qualitätsmerkmal wäre, möglichst zugriffssicher und dem Gesamttextkorpus eines akademischen Faches entsprechend zu indizieren. Andererseits werden Autoren versuchen, die eigenen Beiträge an den Unmengen von anderen Texten vorbeizuschmuggeln. Hierbei wird es, wie sonst auch, zu einem gesellschaftlichen Ausgleich der Fintenrate kommen.

  6. In einem neuen Medium werden immer auch neue Formen realisiert. Alte Formen bleiben daneben jedoch meistens sichtbar. So läßt sich beispielsweise den Eisenbahnwaggons mit Abteilen ansehen, daß sie auf Kutschen-Chassis zurückgehen. In diesem Sinne wird man eine gewisse Zeit lang elektronischen Publikationen (vgl. Böhle 1996) noch die Orientierung an Zeitschriftenaufsätzen oder Buchpublikationen ansehen können.

    Für die Zeit des Übergangs von papierener zu elektronischer Publikation muß eine DML deshalb so ausgelegt sein, daß sie die Kennzeichnung sowohl interner Bezüge von Satz zu Satz innerhalb eines Textes als auch externer Bezüge von Texten, Absätzen und einzelnen Sätzen verschiedener Autoren erlaubt.

    Bislang muß ein Autor noch Sätze aus Texten anderer Autoren in den eigenen Text importieren, um diese dann als eigene Sätze behandeln zu können. Das entspricht dem Vorgehen einfacher Gemeinschaften, die einen Fremden zunächst in ihr Verwandtschaftssystem, etwa als Schwester, aufnehmen müssen, um einen definierten Modus des Umgangs mit ihm zu finden. Mit der Zugriffsmöglichkeit auf weltumspannende Computernetze und einer Welt-Enzyklopädie aufeinander Bezug nehmender Texte dreht sich dieses Verhältnis jedoch um: Nun exportieren Autoren ihre Kommentare in den bestehenden Gesamttextkorpus durch Herstellung von Links.
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    -- Anfang Passage aus dem Original-Manuskript, die in dem gedruckten Artikel fehlt --


    Um die Tags einer DML festzulegen, kann man sich an den von Linguisten entwickelten Wortklassen (vgl. Schmidt 1976) orientieren.

    Präsuppositionen bezeichnen die Voraussetzungen, die einem Satz oder einer Aussage zugrunde liegen; sie können zwar nicht unmittelbar ausgesprochen, aber zumeist erschlossen werden.

    In diesem Sinne würde ein Tag wie etwa <Soziologie> den Kontext der Diskursbeiträge angeben und syntaktisch die Menge der nachfolgenden Tags definieren. Dies entspricht in der HTML dem Tag <HTML>, das am Beginn jedes HTML-Textes steht. Insofern verfügte jedes akademische Fach über ein spezielles Tag, das den Kontext eines Textes festlegte. Technisch ließe sich dies so umsetzen, daß zu Anfang eines jeden soziologischen Textes etwa ein <DML-Sociology> steht, zusammen mit einem Tag für die Sprache, in die der Text geschrieben wurde.

    Illokutionen sind Sprechakte im Hinblick auf ihre kommunikative Funktion. Illokutionen haben eine wichtige soziale Funktion, weil sie den Anschluß weiterer Kommunikation motivieren.

    Eine DML weist die Qualität eines Links hinsichtlich dessen Funktion für den Diskurs aus. Zu dieser Gruppe kommunikativer Bezugnahmen zählen zum Beispiel die folgenden Modi:

    Zustimmung, Bestätigung / Ablehnung, Ermutigung / Entmutigung, Zweifel, Empfehlung, Hinweis / Befehl, Versprechen / Versagung, Geständnis / Zweifel, Frage / Antwort.

    Problematisch hierbei ist die Angabe der Richtung der Bezugnahme: In klassischen wissenschaftlichen Publikationen, für die gilt, daß die Sätze anderer Autoren importiert werden müssen, werden diese aus der Sicht des eigenen Beitrags eingeordnet und bewertet. In elektronisch miteinander verknüpften Texten macht es umgekehrt mehr Sinn, den eigenen Beitrag dort einzuordnen und die eigenen Sätze in Bezug zum Gesamt-Textkorpus zu kennzeichnen.

    Propositionen verstehen Linguisten als "Transformationen 'möglicher Welten' in Wahrheits-Werte" (Schmidt 1973: 89) oder 'als das, was in Akten der Feststellung, Behauptung etc festgestellt oder behauptet etc. wird." (Schmidt 1973: 90). Propositionen kommen nicht allein vor, sondern müssen in illokutionären Akten geäußert werden.

    Sätze stehen nicht nur im Verhältnis zu anderen Sätzen, sondern bezeichnen Sachverhalte in der Welt. Diesen Sachverhalten wird durch die Sprache eine bestimmte Form gegeben. So zwingt zum Beispiel ein Satz wie "Der Wind weht und der Fluß fließt." (vgl. Elias 1970) allein sprachlich die Vorstellung auf, daß hinter dem Prozeß des Wehens und Fließens noch Ursachen stehen müssen. Als hier nicht weiter systematisierte Beispiele für Propositionen wären aufzuführen:

    Feststellung, Behauptung, Erwähnung, Beobachtung, Zahl und Maßeinheit, Bezeichnung, Mitteilung, Kommentar, Erklärung, Korrektur, Vermutung, Verpflichtung, Begründung, Folgerung, Ableitung, Anekdote, Induktion, Deduktion, Abduktion, Fazit, Abstract.

    Es liegt nahe, diese linguistischen Klassen an die von Habermas entwickelten Kategorien des teleologischen, normenregulierten und dramaturgischen kommunikativen Handelns anzuschließen (Habermas 1981).

    -- Ende Passage aus dem Original-Manuskript, die in dem gedruckten Artikel fehlt --


    Es böte sich demnach an, ein DML-Tag dreistellig zu konzipieren: Eine Komponente kennzeichnete den Bezug der Aussage auf andere Aussagen, eine zweite den Bezug der Aussage zu den Objekt-Sachverhalten in der Welt und die dritte Komponente die Aussage im Hinblick auf die Bewertung durch den Autor.

    Probleme und Folgen

    Abschließend möchte ich zumindest noch einige Probleme ansprechen, die die Verwendung einer DML inhärent aufwürfe.

    Die Digitalisierung wissenschaftlicher Texte und die Industrialisierung und Demokratisierung wissenschaftlicher Kommunikation insgesamt greift massiv auf andere gesellschaftliche Bereiche durch, beispielsweise auf Regelungen des Urheberrechts oder der angemessenen Entlohnung von Informationsarbeitern (vgl. Barlow 1995). In anderen Zusammenhängen erarbeitete Modelle zur allgemeinen Grundversorgung (s. Vobruba 1990) erhielten eine neue Plausibilität.

    Das Hauptproblem einer DML-Realisierung bestünde darin, ein ausgewogenes Maß der Stabilität von Links herzustellen: DML-Links müßten einerseits einen sehr viel höheren Grad der Verbindlichkeit untereinander aufweisen als derzeit HTML-Links im WWW. Zum anderen müßten die statischen oder nur zufälligen Bezüge in und zwischen Sätzen auf Papier dynamisiert werden. DML-Texte müßten archiviert werden, um sie nachfolgend als kommentierbare Verankerungspunkte für Links verwenden zu können. Server für solche Archive könnten im staatlichen Auftrag von Wissenschaftsorganisationen oder auch marktreguliert betrieben werden, bespielsweise von Verlagen, die sich auf bestimmte akademische Textklassen spezialisiert haben. Die Archive müßten die Auflage erhalten, in einem angebbaren Zeitrahmen bestehen zu bleiben. Die jeweiligen Autoren und Institute könnten ihre diesbezüglichen Beiträge entweder auf eigenen Platten bereit halten oder in ein dafür vorgesehenes Archiv einer Wissenschaftsorganisation kopieren.

    Eine Frage ist, ob archivierte Texte verbessert oder auch von den Autoren des archivierten Textes lediglich kommentiert werden dürften. Letzteres hätte den Vorteil, daß Fehler als solche dokumentiert blieben, was einen wichtigen Lerneffekt haben könnte. Bei sinnverändernden Ergänzungen, Textupdates oder auch Textlöschungen müßten die Autoren als Linkgeber den Linknehmern Nachricht geben können. Dazu ist es technisch notwendig, daß sich die Links zu den Linkneh-
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    mern zurückverfolgen lassen. Was aber würde es bedeuten, wenn Publikationen sich nicht wie bisher über den Buchmarkt an ein anonymes Publikum richteten?

    Ferner stellt sich das Problem der Rechte an den Links. Gehen diese automatisch an die virtuelle Netzgesellschaft der Wissenschaftler über, sobald ein Text als Link-Anker in einem offiziellen Archiv landet? Oder bestehen Individual-Rechte, wonach ein Link nur gesetzt werden darf, wenn sich Linkgeber und Linknehmer explizit einig sind und der Linkgeber die Bezugnahme nicht verweigert?

    Bislang herrscht im WWW die Ansicht vor, daß das Legen eines Links nicht verweigert werden darf, es sei denn, die Aussage über die referenzierte Seite trifft nicht zu.

    Womöglich wären regelmäßige Update-Termine sinnvoll, so daß bestimmte Textversionen in den Archiven auf jeden Fall bis zum nächsten Update-Termin gültig blieben. Dies entspräche einer Art Taktung des Wissenschaftssystems: Ein Update-Interrupt stellte für einen absehbaren Zeitraum einen neuen, verläßlichen Zustand des Wissenschaftssystems her. Die Häufigkeit der Updates bliebe Angelegenheit der Scientific Society. Eine Treuhänder-Organisation, die auf den bereits bestehenden Verwertungsgesellschaften aufbauen würde, könnte die Update-Taktungen und das Versenden von Steuernachrichten übernehmen, die Verträge zwischen Linkgebern und Linknehmern verwalten und die Abgaben auf die verschiedenen Speicher-, Transport- und Darstellungsformen eintreiben, um sie als Honorare an die Autoren weiterzureichen.

    Allein an diesem sehr klein zugeschnittenen Beispiel einer DML lassen sich die sozialen Folgen der Netze abschätzen, sobald deren Möglichkeiten nicht bloß nach traditionellen Maßstäben genutzt werden. Mit den Netzen stehen die alten Arrangements zwischen Sendern und Empfängern zur Disposition. Die Radikalität der sozialen Veränderung dürfte derjenigen vergleichbar sein, die mit dem Buchdruck und der Dampfmaschine einherging.

    Literatur

    • Barlow, J. P., 1995: Wein ohne Flaschen - Globale Computernetze, Ideen-Ökonomie und Urheberrecht; in: Bollmann, St., 1995: Kursbuch Neue Medien: 79-106
    • Böhle, K., 1996: Elektronisches Publizieren; in: Buder, M./ Rehfeld, W./ Seeger, T./ Strauch, D. (Hrsg.), 1996: Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation, Band 1, München u.a.: Saur: 397-424
    • Bollmann, S. (Hrsg.), 1995: Kursbuch Neue Medien - Trends in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, 2. durchgesehene Auflage 1996: Bollmann Verlag

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    • Deutsch, Markus, 1995: Unternehmenserfolg mit EDI; Strategie und Einführung des elektronmischen Datenaustausches, Wiesbaden: Vieweg
    • Dreyfus, H. L./ Dreyfus, S. E., 1986: Künstliche Intelligenz - Von den Grenzen der Denkmaschine und dem Wert der Intuition, 1. Aufl., 1987, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
    • Elias, N., 1970: Was ist Soziologie?, 4. Aufl., 1981 München: Juventa
    • Habermas, Jürgen, 1981: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1 und 2, 3. Aufl., 1985, Frankfurt/ M.: Suhrkamp
    • Malm, P. S., 1994: The unofficial Yellow Pages of CSCW - Groupware, Prototypes und Projects - Classification of Cooperative systems from a Technological Perspective. Groupware in Local Goverment Administration. (Thesis for the degree of cand. scient in Informatics, in preparation) - University of Tromsö / ftp-Server: gorgon.tft.tele.no, Verzeichnis: /pub/groupware/cscw_yp.*, eMail: paal.malm@tft.tele.no
    • Römer, Martin/ Quendt, Bernd/ Stenz, Peter; 1996: Autopiloten fürs Netz, Intelligente Agenten - Rettung aus der Datenflut. In: ct 1996/ 03: 156-162
    • Rost, Martin/ Schack, Michael, 1993: DFÜ - ein Handbuch. Recherchen in weltweiten Netzen, Hannover: Verlag Heinz Heise
    • Rost, Martin (Hrsg.), 1996: Die Netzrevolution - Auf dem Weg in die Weltgesellschaft, Frankfurt/ M.: Eichborn-Verlag
    • Schmidt, Siegfried J., 1976: Texttheorie - Probleme einer Linguistik der sprachlichen Kommunikation, 2. Aufl., München, Wilhelm Fink Verlag: UTB
    • Stichweh, R., 1994: Wissenschaft, Universität, Profession - Soziologische Analysen, Frankfurt/ M.: Suhrkamp
    • Tanenbaum, A. S., 1990: Computer Netzwerke: Wolfram's Fachverlag
    • Vobruba, G., 1990: Strukturwandel der Sozialpolitik - Lohnarbeitszentrierte Sozialpolitik und soziale Grundsicherung, Frankfurt/ Main: Suhrkamp


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