Version 1.33a - Juli 2007 (etwas redaktionell überarbeitet am 26.06.2025)
Martin Rost
Ab der 9. Klasse waren wir erbarmungslos: Kam jemand neu in die Klasse, wurde er als erstes nach seiner bevorzugten Musikrichtung gefragt und mit der Antwort für immer und ewig eingestuft und weggepackt. Hatte er eine falsche Musikrichtung oder einen vollkommen abwegigen Bandnamen genannt, kam für ihn nur noch ein Schulwechsel infrage, um auch nur eine Chance auf ein geachtetes Leben zu bekommen. Die Frage nach der bevorzugten Musik war die Frage nach allem, was einen Menschen im Kern ausmacht. Aber eigentlich ging es dabei "nur" um Ekstase-Fähigkeit.
Es war damals ganz klar: Für Ekstase braucht man Druck. Mein Freund Roger und ich hockten meist in seinem abgedunkelten Kinderzimmer, das zu unser beider Glück im Keller eines Einfamilienhauses untergebracht war. Dort rissen wir die zunächst billige Musikanlage bis zum Anschlag auf. Und dann wollten wir vor allem eines: Bässe, und zwar laut. Mit wummigen Bässen war man dabei, oben auf der Bühne. Bässe versprechen mit ihrer sinnfälligen Auslenkung der Membran physikalische Anwesenheit der Band. Deshalb hatte ich mir etwas später meine kindsgroßen Boxen irgendwann selbst bauen müssen, zwei 30cm-Basslautsprecher pro Box, übereinander angeordnet, plus Piezo-Mitteltonhorn und Hochtonhorn, wenn überhaupt durch eine Spule entkoppelt, das bißchen Phasenverschiebung... Alles andere war zu leise und ging erfahrungsgemäß zu schnell kaputt. Natürlich konnte bei einem solchen Ensemble klangtechnisch betrachtet nur Krach herauskommen, wie mir später dann physikalisch verständlich wurde. Überhaupt... wir kannten uns in den elektrotechnischen Details der Musikanlagen Ende der 70er Jahr ganz gut aus: Als gute und bezahlbare Plattenspieler galten zunächst die Directdrives von Technics. Danach folgten, audioanalog besser aufgeklärt, die Riementriebler von Thorens. Die akustische Raumauflösung war uns wichtiger als der geringere Rumpel des Direkttrieblers. Und der Plattenspieler hing dann an mindestens 2x80 Watt Class A bei echten 80db Dynamikumfang in der Endstufe und mindestens 94dB-Schalldruck bei 1 Watt/1m. Auch wenn wir Tapedecks nutzten, gespielt wurden wann immer möglich Langspielplatten. Allein weil noch keine CD-Player verfügbar waren. Die gerade neu aufgekommenen CDs galten klanglich ohnehin als problematisch und sie waren eh teuerer als Platten. Wenn es möglich gewesen wäre, eine Musikanlage direkt als Körperimplantat an unsere Anklangsnerven anzukoppeln, um Musik differenziert und schmerzfrei beliebig laut hören zu können, wir hätten es erwogen. Roger rupfte aus seinem Verstärker sogar das Aussteuerungsanzeigelämpchen heraus, damit wir perfekt ungestört in den puren Klang abtauchen konnten. Von Müttern aufgestoßene Türen mitten in einem Live-Act einer Luftgitarre waren Albträume. An musikalischem Material bevorzugten wir naturgemäß Live-Mitschnitte. Die nächtlich übertragenen WDR-Rockpaläste zählten deshalb für uns zu den wichtigsten Festen im Jahr. Diese Konzerte auf Tapes aufzunehmen war Pflicht. Als größter Sympath der Interviewer- und Moderatorenzunft zählt seitdem und bis heute Alan Bangs. Und als vermutlich ein Leben lang eingebrannt gelten mir die Erinnerungen an die Auftritte von ZZTop und Johnny Winter, mit seiner Akustikversion von "Suzie Q".
Die Rockmusik, der ich mich zunächst noch unter leichtem Stress stehend aussetzte, kam von The Doors, Jimmy Hendrix, Nazareth, The Who, Genesis. Da zuzuhören wurde einem nicht geschenkt, es kostete etwas Überwindung, wenn man sich aus der elterlichen Schlager- und James-Last-Partymusik-Ecke rauswinden musste. Musikhören war zu lernen, wie das Biertrinken oder Spiegellesen auch. Rockmusikalisch betrachtet entsprach diese Musikauswahl dem klassischen Mainstream-Zeugs der End-60er und 70er. Als frühe deutsche Band ist mir Birthcontrol in Erinnerung geblieben. Platten dieser Bands hatten die großen Brüder von Freunden in ihren Regalen stehen. Unter diesen befand sich verläßlich auch immer das Woodstock-Album. Später dann gefielen mir Uriah Heap, Rory Gallagher und Janis Joplin. Für mich wirklich nachhaltig prägend waren Deep Purple, Johnny Winter, Muddy Waters, Living Blues, AC/DC und ZZTop, etwas später noch Robert Cray und Steve Ray Vaughan. In der weiteren musikalischen Entwicklung folgte anschließend alles von Zappa und jede Menge an Jazz-Platten aus der Bebop und Cool-Ära, etwa von Gerry Mulligan, Thelonius Monk, John Coltrane und Miles Davis. Auch das sind wohl die klassischen Nummern einer popmusikalischen Sozialisation. Guten Heavy Metal lieferten Motörhead und in seiner besten Form vor allem Judas Priest an. Udo Lindenberg und Marius Müller-Westernhagen galten als zumindest duldbar, man drückte auf den Feten gnädig ein Auge bei Leuten zu die meinten, mit diesem Zeugs feiern zu können. Aber nein, viel zu wenig Ekstase-Potential. Aber immerhin war ab und an mal eine Textpassage ganz okay. So der feine Reim auf Ypsilon: "Ihr Name war Fräulein Meyer, Meyer mit y. Sie schaffte täglich zehn Freier, was für ne Kondition." Okay, ja, das ist ein guter deutscher Text. Außerdem kamen gezielt rausgesuchte Bluesplatten hinzu. Meine ersten zwei waren von Canned Heat sowie Sonny Terry und Brownie McGhee, sie kosteten wenig, etwas verwellte Billigpressungen. Natürlich liefen auch die Beatles immer nebenbei. Aber die anzuhören musste man nicht lernen. Die waren eingängig wie Kinderlieder. Also taugten sie musikalisch nicht wirklich. Dass das so ist und auch sein muß, begriffen Eltern nicht. Das war gut so, tastend-rebellische Emanzipation im Medium der Musik. Abba taugten genau so wenig wie die Beatles. Ab und an konnte man sich bei denen dann mitsingenderweise zwar doch ein bißchen ausruhen, ohne dass es einem deshalb wirklich peinlich sein musste. Heute finde ich, dass die Beatles, Abba und ebenso die Beach Boys einfach nur Klasse sind und ich damals mehr als nur ein bißchen doof war. Immerhin war mir Steve Wonders Genie, damit ist sicher nicht zuviel gesagt, bereits damals klar. Und auch die rundherum einfach nur angenehme wohlgeformte Musik beispielsweise eines Billy Joel oder einer Whitney Houston konnte ich als solche früh schon würdigen. Aber natürlich: Das war Mainstream, und somit nur unter starkem, in der Gruppenöffentlichkeit nur unter demonstrativem Vorbehalt hörbar, klar. Meine popmusikalische Aufgeweichtheit geht heute so weit, dass ich mir inzwischen, unter leichten Schmerzen zwar aber eben doch eingestehen kann, dass beispielsweise ... drucks ... ok ich sag es jetzt einfach mal... ok ok: Die No Angels ziemlich gut waren. Und ja... ich verrenke mich gerade übelst, ... durchatmen ... auch bei Vicky Leandros finden sich gute Songs einer Sängerin, die verdammt noch mal doch eine tolle Stimme hat. So, nun ist es raus. "Ich liebe das Leben" ist bspw. nicht übler als das ebenfalls reichlich ans Herzen greifende "Just when I needed you most" von Dolly Parton. Fast noch mehr Spaß als etwa Gutes aus dem Kommerz-Mainstream herauszufischen bereitet es mir inzwischen, zu unrecht Gefeierte, die nicht ganz straight im Radiopop-Mainstream liegen mögen, maxgoldtsch zu bemeckern. Wie etwa die Red Hot Chili Peppers. Bei denen drei Bandmitglieder auch noch so alt sind wie ich und die trotzdem die aktuellen Möglichkeiten der Popmusik für mich nicht auf den Punkt zu bringen verstehen. Die Performance is okay, aber die Musik is nich. So! Natürlich taugten auch die Stones und Madonna nichts, die bis auf ein ganz paar der popklassischen Hits musikalisch nichts wirklich Relevantes zustandegebracht haben.
So, dann wäre ja endlich mal alles geklärt.
Jedenfalls... wir trafen uns in kleinen Gruppen, oft auch nur zu Zweit, nachmittags, um ne neue Scheibe, vielfach bei Membran oder Am Alten Markt bei Kihr Goebel gekauft, anzuhören. Wir haben uns anhand neuer Platten und neuer Stilrichtungen popmusikalisch gegenseitig ausgebildet. Synthie-Werke von Eberhard Schoener oder auch Kraftwerk sickerten ein, manchmal auch Dada-Zeugs a la Fußgetrappel von der Düsseldorfer Kö, und ebenso ernsthafteres Zeugs von The Can und Klaus Doldinger. Und hin und wieder haben wir uns früh, wie schon gesagt, an schräges Zeug von Zappa rangewagt. Auf einer Doppel-LP von Klaus Schulze war dessen nicht-klassische Notation eines seiner Synthie-Stücke abgebildet. Das fanden wir interessant: Man kann Musik offenbar notieren, wie es einem gefällt, nix mit Noten. Und klangorientierte Synthiemusik lässt sich ja auch gar nicht klassisch notieren. Oftmals brachte Sönke - ein zwei Jahre älterer, musikalisch an Punk und kaufmännisch an Bootlegs interessierter Nachbar von einem Bauernhof - diese Teile von seinen Streifzügen über Hamburger Flohmärkte in unser mittschleswigholsteinisches Kaff. Wir lernten das analytisch-ekstatische Zuhören insbesondere durch diesen Zustrom an Undergroundmusik. Ich erinnere mich an eine anhaltende Phase, in der wir konzentriert nur Gitarrenrückkopplungen, Gitarrensoli und Schlagzeugsoli raussuchten und sie nachmittagelang auf Kassette aufgenommen hintereinander weg immer und immer wieder hörten. Wir kannten in diesen Soli jedes Detail, jede Wendung, jeden Fehler, ja wir sahen uns in der Lage, das legendäre Schlagzeugsolo "In-A-Gadda-Da-Vida" von Iron Butterfly anhand eines gedachten Drumsets synchron mitzuspielen. Bei Gitarrenintros muss zum einen die "Irish Tour 74" von Rory Gallagher und zum zweiten das schräge Lazy-Intro von Deep Purples "Made in Japan" genannt werden. Da stellt sich doch ganz unwillkürlich die auf der Hand liegende Frage: Schmeckt Nutella tatsächlich immer noch so wie zu meiner Kindheit, als ich es bei meinen "wir haben gerade ein Hausbau-gebaut-Eltern" viel zu selten aufs Brot bekam und es sagenhaft gut schmeckte? Heute schmeckt es etwas runtergedimmt immerhin immer noch gut. Möglicherweise hat Ferrero schleichend das Rezept verändert, um Nutella unter der Hand billiger herzustellen? Ja, inzwischen wurde das Rezept offenbar mehrfach geändert. Wie schön ist es dann, bei Lazy, von der Originalplatte von 1974 angetastet, zu wissen, dass es sich definitiv um das Original-Lazy von damals handelt. Wenn ich es jetzt etwa einmal im Jahr anhöre und es doch irgendwie einen Tick zu langsam und insgesamt drucktechnisch schlapper finde als früher, so ahne ich, dass ich mich selbst und dass sich vor allem die musikalischen Verhältnisse geändert haben. Die Musik ist wie vieles andere auch schneller, präziser, härter, punktgenauer, ökonomischer, glatter geworden. Das ist selbstverständlich eine nur langweilige These, aber immerhin ein empirischer Befund über die Jahrzehnte hinweg. Und ich erinnere mich in diesem Zusammenhang gern daran, dass mir ein Freund Anfang 1992 "Fistful Of Steel" von Rage Against The Machine vorspielte. Das Zeugs verschlug mir damals den Atem, weil es so perfekt war: Ja, genau so musste Popmusik "als Crossover-Mix aus Hardcore Punk, Metal, Hip-Hop und Funk", wie die Wikipedia treffend über RATM schreibt, fortan klingen. Auch heute noch klingt das Stück zeitgemäß.
Für Eltern unzugängliche Rockmusik möglichst laut zu hören, wurde von uns dann alsbald nicht mehr als rebellische Geste verstanden und inszeniert. Zu Zeiten von Elvis spielte diese Geste wohl länger eine Rolle, woran so merkwürdige Begriffe wie "Halbstarke" oder "Rocker" aus den 50er und 60er Jahren erinnern. Musik galt uns, so vermute ich heute, nicht länger als Verstärker von Rebellion sondern als Quelle der Ekstase, etwas Erotisches, was bei Elvis immerhin auch schon angeklungen haben dürfte. Und man kann auch mit Mozart in Ekstase geraten, wie ich inzwischen weiss. Heute wird Musik offenbar vorsichtiger als Stimmungsverstärker eingesetzt. In Trance, als hypnotischer Bastard aus Techno und House, wurde dieser ekstatische Anspruch an Popmusik in den 90ern, noch durch den Punk vorbereitet, dann als Massenbewegung auf die Tanzflächen gebracht. Und es ging und geht noch immer beim Hören von guter Musik um Hingabe und Sich-Ausliefernkönnen an die Musik. Dabei gibt es kleine Unterschiede zwischen den Generationen: Wenn es heute als "cool" gelten mag Texte zu kennen, um sie mitsingen zu können, so war es früher "geil", die Instrumente, wahlweise Gitarre, Bass, Schlagzeug und Orgel, zumindest virtuell mitspielen zu können. Und zwar sinnlos exakt. Texte waren, abgesehen vielleicht von den zotigen Texten Zappas und einigen eher witzigen Passagen deutscher Sänger, unwichtig. So entstand damals vielfach der Wunsch, irgendwann einmal ein echtes Instrument in die Hand zu nehmen. Eine einzige funktionierende Saite auf einer E-Gitarre mit einem vollkommen verwarzten Hals bzw. Griffbrett, die an Feiertagen an eine Musikanlage oder an ein altes Tonbandgerät angeflanscht wurde, reichte für anschließend monatelangen Spaß. Eine Gurken-E-Gitarre bot auch mehr Komfort als die reine Luftgitarre. Es ging beim langsamen Einüben des Gitarrenspiels nicht darum, sich zum Lohn endlich berechtigt auf die Bühne stellen zu dürfen, um anderen mit einer guten Performance zu imponieren, sondern es ging auch hier nur um Ekstase. Und es entstand schon früh eine programmatisch klare Vorstellung von der Funktion der Rückkopplung als DEM Soundelement des kleinen Rockmusikers. Die Rückkopplung trifft so wunderbar perfekt den Punkt zwischen Krach (= Punk) und exzellent kontrolliertem Klang (= PET-Sounds der Beachboys). Die (un)beherrschte Rückkopplung ist der Klang-Höhepunkt in der Evolution der Rockmusik, man muss nur bei Beatles und Santana mal richtig hinhören, von Hendrix ganz zu schweigen. Punk offenbarte, dass die Nähe zum Krach Kraft und Autonomie bedeuten konnte, aber viele frühe Wave-Sachen - die in dem Moment den Kontakt zum Punk verloren, als stilisierte Coolness die Ekstase ersetzte - fand ich musikalisch letztlich meist öde. Aber mir war trotzdem klar, dass beide bei Menschen den Mut entstehen ließen, ein Instrument in die Hand zu nehmen und ohne Ehrfurcht vor irgendwas drauflos zu spielen. Und diese Demokratisierung des Musizierens nach dem Motto "diese Art des Musizierens kann im Prinzip jeder hinbekommen", die im übrigen auf Elvis zurückging, war zweifelsfrei vor allem eines: Klasse. (Nachtrag 2025: Mit der KI-Musik als nächster Stufe der Demokatisierung des Musikmachens.)
Derartig popmusikalisch aufgeladen stieß ich, an einem langweiligen Sonntagnachmittag, in der großen Kinderwühlkiste meiner Großeltern, auf eine Mundharmonika. Also auf das ekstasebefreiteste, druckärmste, zweituncoolste Kinderkacke-Instrument dieser Welt, nur ganz knapp getoppt von der Blockflöte.
Ob diese Mundharmonika bei meinen Großeltern wirklich vom Schlage einer anständigen Echoharp von Hohner war - wie ich es zu erinnern meine, denn sie ist längst verschollen - ist zweifelhaft. In der mittleren der drei Oktavreihen waren einige Kanäle kaputt, die Zungen schepperten und Kanzellen waren angebrochen. Immerhin funktionierte die tiefe Oktavreihe einwandfrei. Diese Mundharmonika begleitete mich anfangs durch die ersten volldurchwachten Nächte, in denen ich auf letzte Busse in Kiel warten oder von Feten nach Haus gehen oder oft genug auch trampen musste. Allein. Alles Scheisse mit den Mädchen. Ich bekomm das wahrscheinlich mit denen nie hin, uaaaaaa... Mundharmonika in Mund und in Melancholie suhlen. Die Mundharmonika schmeckte nach Rost, und sie klang vor allem, das war kaum zum Aushalten, peinlich harmonisch schön. Ich konnte richtige Lieder darauf spielen, klar, aber ich konnte keine typischen Harpstyles a la "Spiel mir das Lied vom Tod" oder irgendwelche Riffs wie den "Hoochie Coochie Man", oder wie eine Bluesrock- oder Punkband sie brauchten, erzeugen. Wer will denn so richtige Lieder spielen oder hören? Es dauerte wohl noch ein gutes Jahr, bis mir Stefan Zander, dessen Eltern ein gut laufendes Musikgeschäft in Kiel hatten, eine richtige Hohner-Bluesharp etwas verbilligt mitbrachte. Er überreichte mir das edle Teil kurz vor einer Schulsportstunde in den muffigen Umzugsräumen des alten Kieler-Männer-Turn-Vereins. Ich nahm das gute Stück andächtig an mich und testete sie an. Meine Güte klang diese Harp voll toll. Diese Harp klang natürlich viel besser als alles zuvor bespielte, viel klarer, viel lauter, wozu natürlich auch die große kachel-hallige Umzugskabine beitrug. Einen einzelnen Ton zu spielen war ja soo schön, und die gleichmäßige und sensible Ansprechbarkeit der einzelnen Töne war hinreißend. Schlagartig wurde mir klar: Ok, mit solch einer Harp lässt sich was reißen. So, und was konnte ich nun konkret üben, damit es endlich nach Sonny Boy Williamson oder Little Walter klang? Ich hatte den fabelhaften Sound von Little Walter und Walter Hornton inzwischen kennengelernt. Gerade Little Walters auf den Muddy Waters Scheiben hatte es mir angetan. Klar, wen macht dessen Harpspiel nicht an? Gibt es kein Lehrbuch? Und warum gibt es eigentlich überhaupt keine Bluesharplehrer? Die paar Bücher, die damals irgendwie "Mundharmonika" oder "Harp" im Titel hatten, empfand ich als Beschiss. Als wenn man ein Instrument dadurch lernt, dass man pure Notenbilder von zudem öden und meist unbekannten Liedern vorgesetzt bekommt! Es sind doch nicht Lieder das Problem! Es geht um Sound und Pattern, Riffs, Effekte! Was denken sich denn die Autoren eigentlich dabei, dumme Notenblätter als "Lehrbücher" zu betiteln und herauszugeben? Bin ich so blöde, dass mir diese Heftchen nicht helfen, eine geile Harp zu spielen? Ich hatte die Bluesharp fortan immer dabei und spielte sie zu jeder Gelegenheit in der Hoffnung, dass ich langsam dahinter steigen würde. Die wichtigsten spieltechnischen Durchbrüche, wie zum Beispiel das stufenlose Herunterziehen der Töne oder das rhythmisch orientierte Hobo-Lokomotive-Motiv, kamen entweder in den Wartezeiten beim Trampen oder nachmittags, als ich über Hausaufgaben brütete und zwischen konzentriert und gedankenverloren die Harp ansetzte. Dabei wusste ich lange Zeit nicht, wonach ich eigentlich auf dem Instrumente suchte! Ich kannte ja nicht einmal den Aufbau des 12-Takt-Bluesschemas, das Gitarrenanfänger natürlich fast als erstes drauf haben und das einem Bluesplattenhörer über die Zeit einfach geläufig wird. Ich griff permanent zur Harp und spielte und übte irgendwie. Es wurde mir zunehmend gleichgültiger, ob bei meinem mir selbst unbefriedigenden Gefiepe andere Menschen zuhörten. Dann lernte ich Heiko kennen.
Heiko konnte Gitarre spielen. Das war gut. Aber er hörte z.B. Yellow und Puhdys. Damit wies er für einen geradezu absurd schlechten Musikgeschmack auf - von dem er sich bis heute auch nur teilweise erholt hat. Einmal falsch zu jung abgebogen... und verloren. Na ja. So gab er mal, ohne auch nur einen Anflug von Scham, zu, dass er den mit Abstand perfekt peinlichsten aller deutschsprachigen Tiefsinnssimulanten "Xavier Naidoo" gern höre, "Xavier Naidoo" boah... (Tja, was hätte die Fussballnationalmannschaft 2006 wohl anstellen können, wenn sie wirklich antörnend gute Musik und nicht diesen unsagbaren Langweiler gehört hätte?) Aber... nun zur Habenseite, Heiko hatte damals schon Harmonielehreahnung, Quintenzirkel. Und vor allem... wie er die Gitarre bediente und den Zigarettenqualm während des Hantierens an der Gitarre durch sein Gesicht schlängeln ließ, so dass er meist ein Auge zukneifen musste... das wirkte alles zwar ein bißchen albern, einerseits, sah aber doch auch ziemlich gut nach Musiker aus. Mit den Frauen erging es ihm zu diesem Zeitpunkt jedenfalls schon mal wesentlich besser als mir. Und das trotz des beschissenen Musikgeschmacks und obwohl er, wie ich fand, nicht wirklich rockig singen konnte. Aber er spielte erkennbare Harmonien dazu und quäkte gern mit rauher Geste zum richtigen Ton hin. Er scheute sich aber eben auch nicht, genau das zu tun. Das war tatsächlich irgendwas zwischen Punk und Rock'n Roll. Zusammen mit einem weiteren Freund, der längere Zeit eine gepflegt klassische Gitarre gelernt hatte und uns mangels Bass dann am Cello seiner Mutter trotzdem den Bassmann imprivisierte, jamten wir viele Abende und Wochenenden durch. Wieder gern in abgedunkelten Zimmern, uns dabei gemeinsam langsam zu ekstatischen Songs hinrobbend und genau nicht nur bequem am Bluesschema klebend. Man merkte unseren Songs an, dass wir Drei aus unterschiedlichen musikalischen Quellen schöpften. Heiko lernte dann bald das Harpspielen und wurde schnell besser. Wir haben uns viele Harpfights in den Schulhofpausen geliefert. Damals tauchte übrigens hin und wieder Marc Breitfelder am Horizont der Kieler Szene auf. Marc wurde beängstigend schnell verdammt gut. Es zeigte sich früh, dass mit ihm ein besonders guter Harpspieler heranwachsen wird. (Interview mit Marc Breitfelder (2000)
Heiko spielte später Harp bei der in der Mitte der 80er Jahre in Kiel bekannten Handicap-Bluesband. Es war relativ leicht, als Harpspieler in eine vernünftig besetzte Band zu kommen. Damals spielten in der Handicap-Bluesband Axel Zilienski und Bernd Priddat wirklich gute Bluesgitarristen. Handicap setzte die Tradition der in Kiel legendären Band Boogie Chillen fort. Und ich spielte zu der Zeit Harp in der weitgehend unbekannten Bolliwer Blues Band. Uns interessierte weniger das Covern von Bluesklassikern insbesondere in der Chicago-Tradition als vielmehr das noch härtere und dreckige Bluesrockzeugs wie es z.B. Nine Below Zero aus England raushauten, mit Mark Feltham an der Harp. Mir ging es zunehmend häufiger darum, auch die Rückkopplung, gern als dramaturgischen Höhepunkt des Abends, gezielter als andere Harpspieler in mein Spiel mit einzubeziehen. Und es gab tatsächlich Momente, wo am Ende Krach aus dem Verstärker kam und die Band und ich für Momente voll entzückt entrückt waren. Da war sie, die gesuchte Ekstase, jetzt sogar auf der Bühne, nicht nur vor Boxen. Das Feeling war kaum mehr zu toppen, und ich hatte es sogar echt aktiv erzeugt.
Es mehrten sich insbesondere nach Auftritten Fragen, wie ich eigentlich Bluesharp gelernt hätte oder wie man das lernen könne. Tja, da war sie wieder, die Frage, die ich mir ja auch gestellt hatte. Nun konnte ich Harp spielen, hatte knapp zwei Jahre Banderfahrungen gemacht und schrieb eine 40-seitige Anleitung zum Harplernen zusammen, der eigentlich nur einer Handvoll an Leuten zugedacht war. Dieser Text sollte eines sein: Definitiv besser als die Bücher, die ich zum Harpspiellernen kannte. Der Text bildete später dann die Grundlage für mein Harplehrbuch. Während des Schreibens am Buch habe ich als Harplehrer Stunden gegeben, was erstaunlich gut angenommen wurde. Das führte dazu, dass die Übungen, die ich für meine Schüler angefertigt hatte, ins Buch wanderten. Einige meiner Schüler waren mit geradezu heiligem Ernst bei der Sache, so wie ich ihn selbst nie aufgebracht hatte. Einigen waren zugleich bedrückend untalentiert, weil sie sich bereits vom Spielen "Alle meine Entchen" gefordert sahen. Seitdem weiss ich: Es ist wirklich nicht selbstverständlich, auf einem Instrument auch nur "Alle meine Entchen" spielen zu können. Und gerade diejenigen, die das am wenigsten können, haben oftmal eine besonders stark ausgeprägte Sehnsucht danach, ein Musikinsturment bespielen zu können.
Ich habe keine Ahnung mehr, wie ich dann darauf kam, das Manuskript an den allseits bekannten Voggenreiter-Verlag zu schicken. Kann gut sein, dass ich mir anmaßte zu versuchen, der Peter Bursch - man muss nicht erklären, wer das ist, oder? - der Bluesharp zu werden. Das lag im Bereich des Möglichen allein deshalb, weil es ja weit und breit kein vernünftiges deutschsprachiges Harpbuch gab. Auch das bißchen, was ich an Harpliteratur aus Amerika fand, half nicht, die entscheidenden Geheimnisse zu lüften. Heute ist die Situation, mit Zugriff auf das Internet, natürlich eine ganz andere, man kann alles finden, was einen interessiert, insbesondere über youtube-Lernvideos. Voggenreiter reagierte damals jedenfalls positiv, man lud mich nach Bonn Bad-Godesberg ein. Da lebte noch der alte Voggenreiter, der mich zusammen mit dem damaligen Lektor Thomas Petzold in Augenschein nahm. Sie stellten sich vor, dass ich das Buch zusammen mit Ralf Grottian schreiben könnte. Ralf hatte im Rheinland zu Recht einen Ruf als ausgezeichneter Harpspieler. Und ich konnte für sie offenbar passabel erklären und schreiben. Als sie mit der Idee rausrückten, zufällig hatte Ralf sich auch bei ihnen gemeldet, war ich geschmeidig. Ich hatte mir vorgestellt, das eine oder andere von Ralf zu lernen und die Übungen des Buches dadurch ordentlich zu verbessern. Ich fand die Idee Klasse. Die Arbeitsteilung lag auf der Hand, ich war der geübtere Schreiber und wohl auch Lehrer, Ralf der bessere Harpspieler. Ralf kam dann fast zwei Jahre lang, nach einem ersten vorgelegten Startuptext, leider mit keinen weiteren Texten rüber. So machte ich das Buch dann am Ende doch alleine. Dabei versuchte ich mich in den ersten Manuskriptversionen daran, die gerade allseits aufkommenden politisch korrekten geschlechtsneutralen Formulierungen konsequent anzuwenden. Für einen gesellschaftskritisch-aufklärungsbesoffenen Studenten in den ersten Semestern Soziologie war das natürlich Pflicht. Ich habe es dem Lektorat von Thomas zu verdanken, dass er mir meinen insgesamt verquarsten Studi-Stil behutsam austrieb und mich in Richtung "Szenespeak" drängte. Was mir damals nicht gefiel und mir auch heute noch etwas peinlich ist - allerdings fand ich dann schnell Trost in den guten Verkaufszahlen.
Um die Zusammenhänge der Töne und Tonleitern beim Schreiben des Buches auch visuell gestützt zu verstehen, hatte ich mir eine kleine Heimorgel von Yamaha gekauft. Es war beglückend als ich zum ersten Mal begriff, wie sich die pentatonischen Tonleitern auf der Orgel über die verschiedenen Tonstufen hinweg spielen ließen. Das klang sofort schon mal Klasse fehlerfrei und riffnah interessant, obwohl ich doch gar keine Ahnung vom Orgelspielen hatte und nur ein paar Regeln anwandte. Skalen auf einem Keyboard flink durchzugniedeln ist wahrlich keine Kunst. Und daraufhin habe ich den Tonraum regelrecht erforscht: Welche Töne kann man innerhalb einer Tonstufe noch hinzunehmen, um über mehr und zunehmend interessanteres Spielmaterial zu verfügen? Ich glaube man merkt meinem Buch an, dass es sich im Mittelteil um ein Protokoll eines klar umrissenen, recht einfachen und deshalb gut verständlichen Forschungsprojektes handelte. Als erstes musste ich mir einen Überblick darüber verschaffen, welche Töne auf einer Bluesharp zur Verfügung stehen. Sind es wirklich alle 12 Töne einer Oktave? Das war mir zunächst nicht klar! Also entwickelte ich die "Grafik der spielbaren Töne" für das Buch, die endlich auch die durch das Zieh- und Blas-Bending erreichbaren Töne enthielt. Das war die entscheidende Innovaton. Allein diese Grafik war vermutlich nicht nur für mich ein Riesendurchbruch für das notwendige theoretische Grundverständnis der Bluesharp. Um meine Noten für das Buch zu richten, hatte ich zum Abschluss des Manuskripts dann über ein Schwarzes Brett am Institut für Musikwissenschaften in Kiel Kontakt zu einer Studentin der Musikwissenschaften gefunden. Mit ihr machte ich die Erfahrung, dass sie klassisch ausgebildet zwar toll vom Blatt spielen konnte, sich aber für mich unbegreiflicherweise nicht imstande sah, selbst mal leichtsinnig nur eine kleine Melodie, ein Abschluss-Lick oder Riff aus dem inneren musikalischen Gefühl heraus zu entwickeln. Ich war fast ein bißchen entsetzt über sie. Sie konnte es wirklich nicht, das war kein Geziere. Mein musikalisches Selbstbewusstsein, das aufgrund meiner geringen musiktheoretischen Kenntnisse etwas porös war, zog mit dieser Erfahrung dann doch ein wenig an. Nicht die kenntnisreiche Reproduktion von Musik, sondern spontanes Spielenkönnen, eben: Musizieren, ist eine anzuerkennende Qualität für sich. Es gilt allerdings umgekehrt auch: Ein rein gefühlsorientiertes Bespielen eines Instruments birgt das Risiko, das man über die endliche Reproduktion von Cliches nicht hinaus kommt. Man wiederholt dann zwanghaft nur das, was man kennt. So ganz ohne Theorie oder Lehrer kommt man aus dieser kleinen Schleife nicht heraus.
Musik hatte nach meiner Harpspielphase dann für etwa gute zehn Jahre an Bedeutung verloren. Ab Mitte 2000 nahm die Bedeutung jedoch wieder zu. Generell verspürte ich offenbar wieder stärkeren Ekstasebedarf. Ich hatte zunächst einen Artikel über Melodiewahrnehmung geschrieben, der mir ganz gut von der Hand ging und mir einige positive Reaktionen über das Internet einbrachte. Auch hatten es mir die "The-"Bands angetan: The Strokes, The Hives, The White Stripes... Darüberhinaus hatte ich endlich einen Schatz zu heben angefangen, von dem ich immer ahnte, dass er einer war: Meine Nirvana- und vor allem Pearl-Jam-Phase begann. Dann hatte ich, dank eines MP3-Players, zehn Jahre Popmusikentwicklung in einem halben Jahr nachgeholt. Mit einem Mal interessierten mich auch Texte, nachdem ich auf einige wirklich schöne Texte aufmerksam gemacht worden war. Pearl-Jam galt mir als diejenige Band, die beständig auf mehreren Alben, konkret denke ich an Vitalogy und Binaural, fast nur gute Songs versammelt hat. Daneben hörte ich viel Britpop, Rammstein, Robert Randolph (warum kennt den keiner in Deutschland?) und, wenn es spezifisch Deutsch sein soll, ist Stoppok gut, textlich. Jazz gehört durchgängig zur musikalischen Grundversorgung. Dass ich auch Katie Melua, Norah Jones und Alica Keyes hören mag, hat klar weniger mit rein musikalischem Interesse zu tun, sondern bedient emotionale Situationen. Ob Musik die mir gefällt nun Mainstream ist oder nicht, interessiert mich nicht mehr wie noch zu pubertären Zeiten. Zwischendurch gab es ne Gipsy Swing Phase, mit Bireli Lagrene, Dorado Schmitt oder dem Rosenberg Trio. Und es liefen auch The Stranglers oder Mando Diao durch. Musik hat inzwischen wieder an Bedeutung verloren. Und ich denke ein bißchen, dass es objektiv nicht sein kann, was ich so denke, nämlich dass Little Man Tate die letzten Ausläufer des erdig-guten Britpop sind.
Natürlich habe ich mitbekommen, wie das Niveau des Harpspiels seit Beginn der 90er Jahre anzog. Inzwischen haben wir viele richtig gute Harpspieler allein in Deutschland. Und ich rede mir ein, dass mein Harplehrbuch einen kleinen Anteil an dieser Entwicklung hatte, wie zweifellos auch Steve Bakers Harphandbook, das kurze Zeit nach meinem Buch Anfang der 1990er erschienen war. Diese beiden Bücher ergänzen sich gut. Im ganz entspannten Blick hatte ich neben Steve Baker immer auch Lars Luis Linnek, Marc Breitfelder und Ralf Söchting - die waren zweifellos von je her die besseren Harpspieler. Steve, Lars und Marc sind sogar so gut, dass sie davon leben können, die müssen deshalb besser sein. Aber das machte mir nie das Geringste aus. Ich hatte mit meinem Harp-Lehrbuch einen guten Job zur Erforschung, Popularisierung und nicht zuletzt: zur popmusikalischen Ekstasezugänglichkeit der Harp getan.
Martin Rost
Langwedel, im Juli 2007 (Juli 2025)